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Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
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tanzte gefährlich nahe an ihrem Haar, gleißende Lichtpunkte hüpften vor ihren Augen. Sie begriff, dass sie keine Chance hatte. Mit einem Kampfschrei brachte Niam sie zu Fall. Seine Hand legte sich wie eine Klaue um ihren Hals. Die Treppenstufen drückten in ihren Rücken.
    »Im Feuer Poskurs wirst du sterben!«, heulte der alte Priester auf und hob die Fackel. Weiße Zacken von Schmerz bohrten sich in ihren Hals, als die Fackel niederfuhr und das Feuer über ihr Mal leckte. Lis roch verbranntes Haar, ihre Gedanken verschwanden, dann war sie nur noch Krallen, nur noch Flucht, nur noch geballte Kraft. Sie kratzte, biss, sie schrie, bis die Hand um ihre Kehle sich endlich lockerte. Sie trat um sich und stieß ihren Fuß in etwas Weiches. Ein Schatten glitt über sie hinweg. Plötzlich atmete sie und der Schmerz brandete an ihrem Hals und ihrer Wange hoch. Sie floh, floh auf allen vieren weg von diesem Schatten, floh Stufe um Stufe hinauf, bis sie an eine Tür stieß. Dann drehte sie sich um.
    Das Bild verschwamm vor ihren Augen und wurde nur langsam wieder scharf. Auf der Treppe sah sie Niam und neben ihm eine zweite Gestalt. Es war nicht Tschur, es war Matej. Er klammerte sich an das Geländer, während Niam taumelte und in einem linkischen Tanz versuchte, mit seinen Händen die Axt zu erreichen, die in seinem Rücken steckte. Einige Momente lang hörten sie nur sein Keuchen, dann endlich stolperte der Hohepriester Poskurs, verlor das Gleichgewicht und kippte über das Geländer in die Tiefe. Lis erinnerte sein Körper an eine Lumpenpuppe mit trudelnden Armen. Seine Fackel sprang ihm durch die Luft hinterher wie ein übermütiger Schoßhund. Mitten im Sturz löste sich die Axt aus Niams Körper, prallte am Rand einer Treppenstufe ab und verfing sich auf halber Höhe des Turms in einer V-förmigen Balkenstrebe, die die Treppe stützte. Ohne einen Schrei stürzte der Priester Poskurs auf den Kultplatz seines Gottes.
    »Lis!« Matejs Stimme klang so weich und besorgt, dass sie am liebsten in seine Arme geflohen wäre und die Augen nie wieder aufgemacht hätte. »Beweg dich nicht, Lis. Zeig her!« Seine Finger strichen über ihre Wange, entfernten vorsichtig die Haare, die sich in der Brandwunde verfangen hatten. An seinem Gesichtsausdruck konnte Lis sehen, dass die Wunde schlimm war, sehr schlimm. »Wir müssen dich sofort hier rausbringen, zu einem Heiler.«
    Sie wunderte sich, wie Matej immer noch so ruhig sprechen konnte. Es schmerzte zu sehr, den Kopf zu schütteln. Sie fror. Aus einem Erste-Hilfe-Kurs wusste sie, dass sie dabei war, in einen Schockzustand zu fallen, und biss die Zähne zusammen. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Nicht jetzt! »Erst holen wir Levin, Matej. Ich kann laufen.«
    »Nein, kannst du nicht! Bleib sitzen, ich hole Levin aus dem Verlies. Mach dir keine Sorgen.«
    »Keine Sorgen?« Lis konnte ein Lachen kaum unterdrücken. »Ich mache mir keine Sorgen, ich will zu meinem Bruder!«
    Ihr war nur halb bewusst, dass sie die letzten Worte herausgeschrien hatte. Matej sah sie mit zusammengekniffenen Lippen an. Sie wusste, dass er ihr am liebsten befohlen hätte, vernünftig zu sein. Lis stützte sich auf und wollte gerade noch einmal klarstellen, dass sie auf gar keinen Fall hier warten würde, als er knapp nickte und ihr vorsichtig auf die Beine half. Stumm erklommen sie gemeinsam die Stufen zur Tür.
    Matej hatte ganze Arbeit geleistet. Zerbrochen hing die Tür in einer schartigen Angel. Dahinter war Dunkelheit. Erst als Matej mit der Fackel in den Raum leuchtete, sahen sie Levin. Er lag ausgestreckt auf dem Boden und blinzelte ihnen entgegen. Sein Gesicht, das immer noch die nun reichlich verschmierte Maske der Hohepriester trug, war abwesend, fast friedlich. Seine Lippen bewegten sich. Als Lis sich neben ihm niederließ, hörte sie, was er sang. »Welcome to the Hotel California… such a lovely place…«
    Natürlich, Levin galt in seiner Klasse auch deshalb als Spinner, weil er mit Vorliebe nicht nur keltische Folklore, sondern auch uralte Songs wie diesen hörte.
    Wieder blinzelte er und eine Ahnung des Erkennens blitzte in seiner entrückten Miene auf. »He, Lis!«, sagte er und lächelte ihr zu. Seine Augen glänzten wie zwei nasse Mondsteine und Lis erkannte, dass ihr Bruder hohes Fieber hatte. Obwohl er mit ihr sprach, schien er kaum bei Bewusstsein zu sein. »Hast du mein Handy gesehen?«, flüsterte er. »Ich warte auf eine SMS von der Con-Gruppe.«
    »Nein, Levin«, sagte
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