Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Rückkehr der Zehnten

Titel: Die Rückkehr der Zehnten
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
drückte ihr Auge dagegen. Das Erste, was sie sah, war ein Stück des Marktplatzbodens und ein Fuß, der in ihr Sichtfeld ragte. Ein Stück eines Priestermantels bedeckte ihn zu Hälfte. Anscheinend waren Niam und Tschur nicht die Einzigen, die auf die Idee mit dem Geheimgang gekommen waren. Nun, weit hatte diesen Priester sein Einfall nicht gebracht.
    Weiter hinten auf dem Platz waren die verkohlten, erloschenen Scheiterhaufen. Wie schwarze Skelette ragten die verrußten Eisenstangen der Käfige in den Himmel. Der Anblick passte nicht zu dem, was Lis hörte, denn noch immer war da das Geräusch von prasselndem Feuer. Das Zweite, was sie verwunderte: Der Platz vor dem Priesterturm war voller Menschen. Etwa fünfzig Sarazenenkrieger standen dort und sahen mit seltsam faszinierten Gesichtern nach oben. Tona war mitten unter ihnen und weinte. Schräg hinter ihr stand der große, sanfte Wit. Von seinem Novizenmantel war nichts mehr übrig, aber er schien unverletzt zu sein. Und nicht weit von ihm erkannte sie voller Erleichterung Jishaar und Aladar. Sie streckte den Arm aus der Luke und wedelte wie verrückt mit der Hand. »Jishaar!«, schrie sie. »Hier!« Die plötzliche Euphorie spülte ihre Schmerzen fort. Sie war einfach glücklich, unglaublich glücklich, endlich in Sicherheit zu sein. Hektisch zog sie die Hand zurück und spähte wieder auf den Platz.
    »Lizaanjah?«, schrie Jishaar ihr zu.
    Ihr Herz machte einen Freudensprung. Sie hatten sie gesehen! »Ja, ja! Holt uns hier raus! Die Tür ist verriegelt!«
    Doch statt sofort herbeizustürzen, warf Jishaar nur einen besorgten Blick nach oben. Die anderen Krieger machten ein paar Schritte nach hinten. Mit Erstaunen, das langsam und zäh durch ihre Gedanken floss, registrierte Lis, wie Jishaar eine heftige Diskussion mit zwei anderen Kriegern begann, während die Menschen sich weiter und weiter zurückzogen. Schließlich rannten zwei Sarazenen auf den Turm zu und begannen endlich mit ihren Äxten auf die Tür einzuschlagen.
    Erleichtert zog sich Lis zu Levin zurück. Matej kauerte neben ihrem Bruder am Boden und hustete im dichten, schweren Qualm, der Treppenstufe für Treppenstufe nach unten schlich und sie einzukreisen begann. Immer noch reagierte Lis’ benebelter Verstand nicht. Dumpf klopften die Axtschläge gegen die Tür. Raue Stimmen riefen sich etwas zu.
    »Sie kommen uns holen«, sagte Lis und wiegte sich in der Sicherheit, dass der Albtraum nun vorbei war, endlich vorbei.
    »Hoffentlich«, flüsterte Matej atemlos und sah zur Turmkuppel hinauf. Endlich kam Lis auch auf die Idee, nach oben zu schauen.
    Opferfackelheil brannte der Turm über ihren Köpfen. Die Treppe ächzte unter den brüllenden Hieben des Feuers. Eine Seitenwand des Turms war bereits fast auf Augenhöhe von Flammen umhüllt. »Nein«, sagte Lis, und sie wiederholte es immer wieder. »Nein, nein, nein!«
    Ein grässliches, morsches Knirschen erfüllte den ganzen Turm. Stimmengewirr und laute Befehlsrufe antworteten ihm, dann verstummten die Schläge an der Tür. Das Geräusch von schweren, flüchtenden Schritten erklang und wurde immer leiser. Im magischen Zirkel fing die erste Statue knisternd Feuer. Mitten in der plötzlichen beängstigenden Stille krachte es so laut, dass Lis sich reflexartig über den bewusstlosen Levin warf und den Kopf einzog. Matej war dem gleichen Impuls gefolgt. Sie tastete nach seinen Fingern und fand sie auf Levins Brust. Als wäre es das Einzige, was sie in dieser Lage tun konnten, nahmen sie sich an den Händen. Gleichzeitig hoben sie die Köpfe und sahen sich an im vollkommenen Begreifen, dass es zu spät war.
    Das Letzte, was Lis wahrnahm, war der goldene Fleck in Matejs rechtem Auge. Für einen magischen Augenblick hatte sie das Gefühl, als wären ihre Seelen eins. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie in Matejs Augen sein ganzes Leben – unzählige Fotoschnappschüsse, die sich in einem wirbelnden Haufen mit den ihren vermischten. Möglichkeiten blitzten auf; Bilder, die sie nie sehen würde, flatterten zwischen Vergangenes. Weihnachtsbilder und Schnappschüsse von Geburtstagen vermischten sich mit Bildern von Spaziergängen an der Isar und Ferienbildern von verschlafenen Sommernachmittagen am Piraner Strand.
    Dann brach die Welt zusammen, ihr Bewusstsein zersplitterte. Poskur verschlang die Bilder mit seinem brennenden Maul.

Matej
     
    B
    litzhelle Pfeilfische trieben hinter ihren geschlossenen Lidern in einem dunkelroten Meer. Schön sahen sie aus.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher