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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope
Autoren: Henning Mankell
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ihrem nicht vorhandenen Weg gelegen. Zweimal hatten sie eine Wassertränke gefunden, beide Male, weil sie Vogelschwärme am Himmel hatten steigen und sinken sehen. Bisher hatten die Ochsentreiber sich nicht beklagt. Aber Bengler war klar, daß es nicht mehr lange dauern würde. Mit jedem Tag hatte sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Bei zwei Gelegenheiten hatte er die Peitsche gegen sie erheben müssen, um sie zum Weitergehen zu zwingen. Er wußte, beim dritten Mal würde er schlagen müssen.

    Neka war immer noch genauso fett. Das wunderte ihn. Die Mahlzeiten der Ochsentreiber waren womöglich noch knapper als seine eigenen. Aber abgesehen von Amos, der ein paar Brocken Englisch konnte, war jedes Gespräch unmöglich. Sobald er sich ihnen näherte, gab es eine Bereitschaft, Befehle entgegenzunehmen, vielleicht eine Zurechtweisung zu bekommen, indem er ungeduldig mit den Armen fuchtelte oder auf irgend etwas deutete, das nicht so war, wie es sein sollte. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen und Abend die Wagenräder zu inspizieren, da sie es sich nicht leisten konnten, noch ein weiteres zu verlieren. Er versuchte den Zustand der Ochsen zu beurteilen, ob einer Anzeichen von Krankheit oder Erschöpfung zeigte. Außerdem kontrollierte er, daß nichts von der Wagenladung verschwunden war. Da stapelten sich seine Gläser und Metallgefäße mit Spiritus, die auf Insekten warteten. Sein Zeichenmaterial und der Proviant. Noch hatte er nicht feststellen können, daß einer der Ochsentreiber zum Dieb wurde. Jedesmal, wenn er diese Kontrollen durchführte, fühlte er eine Welle von Scham in seinem Körper aufsteigen. Mit welchem Recht mißtraute er eigentlich diesen Menschen, die doch die Voraussetzung dafür waren, daß er jeden Tag ein Stück vorwärtskam, daß sein Zelt aufgeschlagen und eine Mahlzeit für ihn zubereitet wurde? Bei mehreren Gelegenheiten, meist abends, schrieb er etwas darüber an Matilda. Er gebrauchte fast immer das Wort Dynastie, als wäre es in diesem Zusammenhang ein heiliges Wort geworden. Die bestimmende Dynastie, und die anderen, welche die notwendigen Befehle empfingen.

    Die beiden Monate, die sie nun schon durch die Wüste zogen,
    hatten seine Ansichten darüber, was das Leben eigentlich für ein Ziel hatte, grundsätzlich verändert. Noch immer wiegte er sich in der Gewißheit, daß eine unbekannte Fliege, oder vielleicht ein Käfer oder ein Schmetterling, seine gesamte Existenz rechtfertigen würde. Aber zugleich hatte der Sand in seiner ganzen trostlosen Unbegreiflichkeit ihn gezwungen, den Rückzug durch sein Leben anzutreten. Langsam rollte der Wagen hinter den Ochsen voran. In seinem Inneren bewegte er sich die ganze Zeit rückwärts, oder nach innen, auf etwas zu, wovo n er nicht wußte, was es war. Klarheit? Ein Verständnis für das, was ein Individuum sein konnte oder sollte. Jeden Morgen, wenn sie aufbrachen, hatte er sich für einen Gedanken entschieden, den er eigens an diesem Tag bearbeiten wollte. Da er in der Philosophie nicht weiter bewandert war, mußte er die großen Fragen nach seinen eigenen Vorstellungen formulieren, so gut er es eben verstand.

    An einem Tag hatte er über die Liebe nachgegrübelt, vom frühen Morgen an, bis er am Abend ermattet einschlief. Er war immer durstig, da sie von Anfang an gezwungen gewesen waren, das Wasser zu rationieren. An Matilda schrieb er in seinem Buch, daß die Gnade der Liebe ihm unbegreiflich sei. Aber daß das erotische Spiel, das sie ihn gelehrt hatte, immer noch imstande sei, ein heftiges Begehren in ihm zu wecken.
    Gerade an diesem Tag hatte die Wüste ihn mit Haß erfüllt, da sie keinen Schlupfwinkel bot, in den er sich zurückziehen konnte, um zu onanieren. Und am Abend, als er allein im Zelt saß, war die Lust verflogen.

    Eines Nachts war er davon aufgewacht, daß ihn eine eigentümliche Stille erfüllte. Erst hatte er nicht begriffen, was es war. Dann hatte er gemerkt, daß die Kiefer seines Vater aufgehört hatten zu mahlen. Er hatte die Kerze angezündet, auf die Uhr gesehen und den Zeitpunkt im Tagebuch notiert. Ohne es sicher zu wissen, war er davon überzeugt, daß sein Vater genau in dieser Nacht gestorben war. Er hatte auf seinem Stuhl in der Laube gesessen, und als die Haushälterin hineingekrochen war, um ihn zu holen, waren die Kiefer still gewesen und das Herz tot. Er empfand keine Trauer, keinen Schmerz und keine Sehnsucht. Aber statt dessen eine schwer erträgliche Ungeduld. Wie lange
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