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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope
Autoren: Henning Mankell
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schwarzen Männer angetrieben, die er in Kapstadt gedungen hatte und die seine drei Ochsen mit dem Wagen führten, auf dem sein ganzes Leben verpackt und mit Stricken befestigt war. Irgendwo vor ihnen, tief drinnen in der gleißenden Hitze, lag eine Handelsstation, und hätte er diese erst erreicht, würde alles gut werden. Er würde nicht sterben. Er würde weiter nach seinen Insekten suchen, nach dieser verdammten Fliege forschen, die keiner vor ihm entdeckt hatte und der er seinen Namen würde geben können, Musca bengleriensis. Er konnte jetzt nicht aufgeben. Er hatte sein ganzes Leben in diese Jagd auf eine unbekannte Fliege investiert. Und so war er weitergelaufen, und der Sand und die Sonne hatten sich wie Messer in sein Bewußtsein gebohrt.

    Vor zwei Jahren hatte er in seinem Studentenzimmer in der Prästgatan in Lund gesessen und draußen die Hufe der Pferde übers Pflaster klappern hören, während er eine unvollständige deutsche Karte der Kalahariwüste studierte. Sein Finger war an der Küste von Deutsch-Südwestafrika entlanggefahren, hatte sich in nördlicher Richtung bewegt, bis zur Grenze von Angola, dann nach Süden zum Land der Buren, und schließlich ins Innere, ins Zentrum von Südafrika, das keinen Namen hatte. Damals, 1874, war er 27 Jahre alt, und er hatte bereits jeden Gedanken daran aufgegeben, sein Studium zu Ende zu bringen und ein Universitätsexamen abzulegen. Als er von der Kathedralschule in Växjö nach Lund gekommen war, hatte er erst vorgehabt, Arzt zu werden, aber bereits beim ersten Besuch in der Anatomie war er ohnmächtig geworden und umgefallen wie ein schwerer Baum. Der Seminarleiter, Professor Enander, hatte, bevor die Türen des Anatomischen Theaters geöffnet wurden, ausführlich berichtet, sie würden jetzt eine Herumtreiberin obduzieren, eine unverheiratete Frau, die in einem Kopenhagener Bordell im Suff zu Tode gekommen sei und die man in einem Sarg wieder nach Schweden transportiert habe. Eine Mamsell Andersson aus Kivik, die der Sünde verfallen sei und schon mit fünfzehn ein uneheliches Kind geboren habe. Sie habe ihr Glück in Kopenhagen gesucht, wo sie nichts anderes erwartet habe als Unglück. Er erinnerte sich an die fast lüsterne Verachtung, die Professor Enanders Einführung prägte.

    - Wir werden einen Leichnam aufschneiden, der schon zu Lebzeiten ein Kadaver war. Einen Hurenkadaver aus Österlen.

    Danach waren sie geschlossen in das Anatomische Theater eingezogen, sieben Kandidaten der Medizin, lauter Männer, einer so bleich wie der andere, und anschließend hatte Professor Enander angefangen, den Bauch aufzuschneiden. Da war er in Ohnmacht gefallen. Er hatte sich den Kopf an einer der harten Stahlkanten des Obduktionstisches aufgeschlagen, davon war ihm ein Mal geblieben, eine Narbe gleich über dem rechten Auge.

    Daraufhin hatte er alle Gedanken an eine medizinische Karriere aufgegeben und erwogen, zum Militär zu gehen, hatte aber nur ein sinnloses Ritual von marschierenden und schreienden jungen Männern vor sich gesehen. Er hatte mit der Philosophie geliebäugelt und mitunter überlegt, ob er Pfarrer werden sollte, wenn er mit den Kommilitonen zusammensaß und trank, aber es gab keinen Gott, und schließlich war er bei den Insekten gelandet.

    Er konnte sich noch genau an diesen frühen Sommermorgen erinnern. Er war mit einem Ruck aufgewacht, als hätte ihn etwas gestochen, und als er das Fenster öffnete, hatte der Gestank von der Straße ihm Übelkeit verursacht. Als wäre er einer plötzlichen Gefahr ausgesetzt, hatte er sich hastig angezogen, seinen Spazierstock genommen und war stadtauswärts gewandert, in Richtung Staffanstorp. Unterwegs war er müde geworden, war von der Straße abgewichen und hatte sich in den Schatten eines Baums gelegt, um sich auszuruhen und vielleicht ein wenig zu onanieren. Und als er da lag, ließ sich ein bunter Schmetterling auf seiner Hand nieder. Es war ein Zitronenfalter, aber er war noch etwas anderes gewesen als das. Das Farbenspiel auf den Flügeln, die sich langsam öffneten und schlossen, hatte sich immerzu verändert. Die Sonnenstrahlen, die durchs Laubwerk fielen, verwandelten das Gelb in Rot, in Blau, dann wieder in Gelb. Der Schmetterling hatte lange auf seiner Hand gesessen, als hätte er eine wichtige Botschaft für ihn, und dann, als er plötzlich aufgeflogen und verschwunden war, hatte er es gewußt.

    Insekten.
    Die Welt war voller Insekten. Die keinen Namen hatten, nicht katalogisiert waren.
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