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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope
Autoren: Henning Mankell
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22. Juni, als die Sonne gerade unterging, rief der Mann im Ausguck, es sei Land in Sicht. Robertson ließ das Schiff in dieser Nacht vor Anker treiben. In der Mannschaftskajüte herrschte eine eigentümliche Stille, als wagte keiner der Matrosen daran zu glauben, daß sie noch einmal eine Reise zum fernen schwarzen Kontinent überlebt hatten. Leise, als würden sie einander Geheimnisse anvertrauen, fingen sie an, die Tage zu planen, die sie an Land verbringen würden. Aufmerksam lauschte Bengler dem Flüstern, das die Kajüte erfüllte. Und es war wie eine gemurmelte Litanei, bei der zwei Dinge ständig wiederholt wurden. Frauen und Bier, Frauen und Bier. Nichts anderes. In der letzten Nacht auf dem Schiff versuchte er in seinen Gedanken all das zusammenzufügen, was er hinter sich gelassen hatte. Aber nicht einmal Matildas Gesicht konnte er sich vergegenwärtigen. Nichts war geblieben.
    In der Morgendämmerung verabschiedete er sich von Robertson.
    - Wir werden uns nicht wiedersehen, sagte Robertson. Ich spüre immer, wenn ich jemandem zum letzten Mal Lebewohl sage.

    Es war, als würde Robertson das Todesurteil über ihn sprechen. Es empörte ihn, weil es ihm Angst machte. Konnte Robertson das sehen, was vor ihm lag, in das Unbekannte hineinblicken? Er weigerte sich zu glauben, daß dem so sei. Aber Robertson war einer der rätselhaftesten Menschen, die ihm je begegnet waren. Was war er wirklich? Ein verrückter Pfarrer oder ein durchgedrehter Kapitän? Oder ein Mensch, der tatsächlich die Gabe hatte zu sehen, auf wen der Tod schon wartete?
    - Viel Glück, sagte Robertson und reichte ihm die Hand. Jeder hat seinen Weg zu gehen. Das ist nicht zu ändern.
    Dann wurde er an Land gerudert. Der Tafelberg ragte, wie ein geköpfter Hals, hoch über der Stadt auf, die unter dem Berg eingeklemmt lag. Am Kai herrschte großes Gedränge, Menschen schrien und rempelten sich an, ein paar schwarze Männer mit Ringen in den Ohren fingen an, an seiner Kiste zu zerren, und er mußte sie mit den Fäusten verteidigen. Er sprach deutsch, aber keiner verstand ihn, rings um ihn her wurde nur englisch geredet. Robertson hatte ihm zwei Adressen gegeben, die von einer überwiegend läusefreien Herberge und die von einem alten englischen Lotsen, der aus unerfindlichen Gründen schwedischer und norwegischer Honorarkonsul in Kapstadt war. Als er sich mühsam zu der Herberge durchgefragt hatte, war er schweißgebadet. Die weiße Frau, der die Pension gehörte, schrie eine dicke Mulattin an, sie solle dem neuen Gast Wasser bringen. Und er trank und wußte sofort, daß etwas mit seinem Magen passieren würde. Er bekam ein Zimmer, in dem die Laken gemangelt waren, aber dennoch klamm. Alles schien feucht zu sein, die Dielen waren porös, und er legte sich aufs Bett und dachte: Jetzt bin ich also angekommen, und ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin.
    Am nächsten Tag, als er bereits mit der ersten Diarrhöe zu kämpfen hatte, suchte er den schwedisch-norwegischen Honorarkonsul auf. Dieser wohnte in einem weißen Haus an einer Straße, die sich in die Berge hochschraubte. Ein schwarzer Mann, dem die Zähne fehlten, ließ ihn ein, und er mußte zwei Stunden auf einem Holzschemel warten, bis Konsul Wackman aufgehört hatte zu schnarchen und sich erhoben und angekleidet hatte. Er hatte einen vollständig kahlen Schädel, keine Brauen und eigentümlich abstehende Ohren, die an Schwalbenflügel erinnerten. Seine Beine waren kurz, um den Bauch hatte er ein indisches Tuch gebunden, und an der nackten Brust hatten sich zwei Blutegel festgesaugt. Er überflog den Brief, den Robertson geschrieben hatte, und warf ihn dann von sich.
    - Immer diese verrückten Schweden. Warum müssen sie ausgerechnet nach Afrika kommen? Was wir hier brauchen, sind Ingenieure. Erfahrene Leute, die praktische Probleme lösen können oder jede Menge Kraft haben, oder ein bißchen Kapital mitbringen. Aber nicht diese ganzen Verrückten, die entweder kommen, um die Heiden zu bekehren, oder um die Scheiße aufzusammeln, die die Elefanten fallen lassen. Und jetzt das. Insekten. Wer braucht schon Fliegen und Mücken in Katalogen?
    Mit seinen Wurstfingern griff er nach einer kleinen Silberglocke und läutete. Ein schwarzer Diener, bis auf einen dünnen Lendenschurz unbekleidet, kam herein und kniete nieder.
    - Was möchten Sie? fragte Wackman. Gin oder was sonst?
    - Gin.

    Der schwarze Mann verschwand. Draußen vor den Fenstern konnte Bengler sehen, daß jemand einen Geier an den
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