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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope
Autoren: Henning Mankell
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Welt.

    Diese Welt war in dichten, kompakten Nebel gehüllt.

    3

    Auf dem Schiff wurde er von seinem Namen befreit. Man nannte ihn nie etwas anderes als den Passagier. Ohne daß er richtig wußte, wie ihm geschah, durchlief er ein Ritual, bei dem er seiner bisherigen Identität enthoben wurde. Er wurde der Passagier. Unter diesen bleichen, hart arbeitenden Menschen war er der einzige, der nichts anderes tat als zu reisen. Ohne Namen, ohne Vergangenheit, ohne etwas anderes als eine Koje inmitten der Matrosen. Das war ihm nur recht. Als er seine Identität verlor, verschwand zugleich auch die Vergangenheit. Es war, als würde das salzige Wasser, das über die Reling spritzte, in sein Bewußtsein eindringen und alle schattenhaften Erinnerungen zerfressen, die er mit sich herumtrug. Die mahlenden Kiefer des Vaters verblaßten, Matilda wurde zu einer undeutlichen Silhouette und das Haus in Hovmantorp zur Ruine. Von seiner Mutter und den beiden Schwestern blieb nichts, nicht einmal die Erinnerung an ihre Stimmen. Als er sich in den Passagier verwandelte, entdeckte er zum ersten Mal, daß etwas existierte, wovon er zwar gehört, was er aber nie zuvor begriffen hatte. Freiheit.

    Die Ankunft in Kapstadt sollte ihm als langgezogener, unwirklicher Traum in Erinnerung bleiben. Oder war es vielleicht eher das Ende eines Alptraums, der unmerklich in einen anderen überging? Noch ehe sie Cardiff erreichten, hatte sich gezeigt, daß der Kapitän, der Robertson hieß, an einer periodisch auftretenden Form von Wahnsinn litt. Wenn es wieder soweit war, kam er mit Messern in den Händen in die Mannschaftskajüte gerannt und stach wild um sich.

    Man war gezwungen, ihn zu fesseln, und erst nach mehreren
    Tagen, wenn er zu weinen anfing, ließ man ihn wieder frei. Bengler hatte erkannt, daß die Mannschaft ihm in großer Liebe zugetan war. Der Schoner war im Grunde eine schwimmende Kathedrale mit einer Gruppe von Jüngern, die bereit waren, ihrem Meister in den Tod zu folgen. Zwischen seinen periodischen Anfällen war Robertson sehr liebenswürdig und widmete seinem einsamen, schweigsamen Passagier viel Zeit und Aufmerksamkeit. Robertson war um die Vierzig, hatte angeheuert, als er neun war, mit sechzehn eine religiöse Krise durchgemacht und später, als er Kapitän wurde, ein unsichtbares Gewand angelegt, das eigentlich ein Talar war und keine Marineuniform. Seinem Passagier konnte er von vielen Seltsamkeiten auf dem afrikanischen Kontinent berichten. Die Wüste hatte er jedoch nie besucht. Sein Gesicht nahm einen abwesenden, beinahe traurigen Ausdruck an, wenn der Passagier ihm von seinen Plänen erzählte. Allerdings nicht die tiefste Wahrheit, jene von dem geheimnisvollen Schmetterling oder der Fliege, die seinen Namen tragen sollten. Aber von den Insekten, wie er sie katalogisieren, klassifizieren, identifizieren würde, dieses umfassende Ordnen, das notwendig war, damit ein Mensch ein anständiges Leben führen konnte.
    Das Reden über die Wüste, über ihre Weiten aus Sand, hatte Robertson bedrückt.

    - Im Sand kann man nicht einmal ertrinken, sagte Robertson.
    - Aber auch am Sand kann man zugrunde gehen, widersprach der Passagier.
    Robertson hatte ihn lange betrachtet, bevor er einen weiteren Kommentar abgab.

    - Noch nie hat jemand Gott aus einem Sandkorn auferstehen sehen. Der Teufel dagegen hat zu gewissen Zeiten brennenden Sand aus seinem Maul gespien.
    Der Passagier hatte den Sand nie wieder erwähnt. Statt dessen hatte er Robertson dazu gebracht, von den schwarzen Menschen zu erzählen, den kleinwüchsigen und den sehr großen, von Frauen, die sich Dung ins Haar schmierten, von wilden Tänzen, die nichts anderes waren als Schattenbilder erotischer Spiele. Und der Passagier hörte zu. Jeden Abend, ausgenommen während eines schweren Sturms in der Biskaya, hatte er sorgfältig notiert, was der Kapitän sagte. Nachdem er Robertson geholfen hatte, ein stark infiziertes Ohr zu säubern, hatte sich ihr Verhältnis noch vertieft. Als besondere Gunst, oder als würde ihm damit ein heiliges Sakrament zuteil, hatte Robertson ihn in den Gebrauch des Sextanten eingeweiht. Das Gefühl, das Schiff eher in sich zu tragen, als sich an Deck eines Schiffs zu befinden, verstärkte sich immer mehr. Jeden Morgen hißte er seine inneren Segel, je nach Stärke und Richtung des Windes. Abends, oder wenn sich ein Sturm zusammenbraute, beobachtete er die Matrosen beim Klettern in den Masten und traf in sich selbst die gleichen Vorkehrungen.

    Am
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