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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope
Autoren: Henning Mankell
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würde. Er war geschickter geworden. Eines Tages würde Kiko ihm die Antilope anvertrauen können, die Antilope an der Felswand.

    In der letzten Zeit, als er der Wüste, die ihn erwartete, schon sehr weit entgegengesunken war, fing er endlich an, die Stimmen zu hören. Jetzt waren sie ganz in seiner Nähe. Allmählich konnte er auch ihre Gesichter erkennen. Ein Junge, der ein paar Jahre älter war als Daniel, kam an sein Bett. Daniel erinnerte sich nicht an seinen Namen, aber es gab keinen Zweifel, daß er es war, der dritte Sohn, den eine von Bes älteren Schwestern geboren hatte. Als Daniel seine erste Frage stellte, ob es lange dauern würde, bis Be und Kiko kämen, antwortete der Junge, sie wären auf der Jagd. Aber sie würden bestimmt bald zurück sein.

    Gerade als der Junge bei ihm angekommen war, hatte Edvin die Tür geöffnet und einen Holzbecher mit Milch hereingebracht. Er hatte ihn auf den Tisch neben dem Bett gestellt und war stehengeblieben. Dann war er zur Tür gegangen und hatte mit leiser Stimme nach Alma gerufen. Daniel hatte unterdessen dem Jungen erklären können, wer sie waren, Edvin und Alma, und als Alma hereinkam, hatte der Junge sich zu Daniels Füßen aufs Bett gesetzt.

    - Jetzt sind sie wieder da, sagte Edvin.
    - Wer denn?
    - Die Stimmen! Hörst du nicht. Er ist nicht allein hier drinnen.
    Alma lauschte.
    - Das bildest du dir ein. Hier ist niemand.
    - Aber hörst du denn nicht? Er ist nicht allein hier. Zum Teufel noch mal.
    - Du bist müde, sagte Alma und nahm Edvin an der Hand. Du schläfst schlecht, weil du dir Sorgen machst. Ich mache mir auch Sorgen. Aber man muß auf Gott vertrauen.
    - Gott, sagte Edvin zornig. Was weiß der schon?

    - Du sollst nicht lästern.
    Dann verließen sie das Zimmer. Der Junge stand vom Bett auf, winkte Daniel zu und verschwand. Daniel schloß die Augen und fuhr fort zu sinken. Er konnte den warmen Sand unter seinen Füßen spüren. Wenn er die Augen mit der Hand beschattete, sah er ein paar Zebras, die sich in dem flimmernden Sonnenlicht bewegten. Obwohl er nicht hungrig war, verspürte er Lust, die Zähne in das Fleisch eines Tiers zu schlagen, das Kiko erlegt hatte.

    Ein einziges Mal in dieser letzten Zeit war ihm so, als sähe er Vater wieder. Da war er schon so tief gesunken, daß er von Sand und niedrigen Sträuchern umgeben war. An einem ausgetrockneten Wasserlauf lag ein ausgebleichtes, sauber abgeschabtes Skelett. Gleich neben der einen Hand, deren Fingerknochen gespreizt waren, befand sich eine kleine Holzschachtel. Es war dieselbe Schachtel, die Vater bei mehreren Gelegenheiten Daniels Obhut anvertraut hatte, da sie das Insekt enthielt, dem Vater eines Tages seinen Namen geben würde. Daniel öffnete sie und fand einen vertrockneten Schmetterling, der einmal blau gewesen war. Als er die Flügel berührte, zerfiel der Falter zu bläulichem Pulver. Er stellte die Schachtel zurück neben Vaters Skelett und dachte, er könnte nur hoffen, daß jemand, vielleicht die Frau mit den Knöpfen, Vater eines Tages finden und ihn wieder heimbringen würde. Schließlich war er angekommen. Als erstes sah er die Berge, wo sich die Antilope in der Höhle befand. Von weit her näherten sich zwei Menschen. Er wartete. Schließlich sah er, daß es Be und Kiko waren, und Be trug ein neues Kind auf dem Rücken, und sie erzählte ihm, daß er in der Zeit, die er fort gewesen war, eine Schwester bekommen hatte. Kiko war nicht ärgerlich. Daniel reichte ihm sein Geschenk und vergaß im selben Moment, daß sein Name einmal Daniel gewesen war. Jetzt war er wieder Molo. Sonst nichts. Lange bewunderte Kiko den Gegenstand, den er in seinen Händen hielt.
    - Du hast Geduld bekommen, sagte er dann. Du bist erwachsen geworden.

    Molo lächelte. Er war jetzt zu Hause. Alles, was gewesen war, würde bald aus seinem Kopf verschwunden sein.

    Daniel starb früh an einem Sommermorgen. Da hatte er bereits mehrere Wochen in einem Dämmerschlaf gelegen. Doktor Madsen hatte nichts tun können. Es gab keine Hoffnung.
    Erst später, als sie ihn in den Sarg legen wollten, fand Alma die Holzskulptur. Sie zeigte Edvin das Gebilde.
    - Er hat einen Hirsch aus einem Holzschuh geschnitzt, sagte er. Warum hat er das getan?

    - Den wollen wir ihm in den Sarg mitgeben, sagte Alma. Damit er nicht allein sein muß.

    Sie legten die Skulptur neben seinen Kopf und schraubten anschließend den Deckel fest. An der Beerdigung nahmen viele Menschen teil. Hallen entschied sich, keinen Bibeltext zugrunde
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