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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen
Autoren: Bernard Werber
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schob sie sich zwischen die Lippen und knackte schließlich mit den Zähnen die kleinen widerspenstigen Knochen.
    »Ißt du nichts? Schmeckt es dir nicht?« fragte sie Julie.
    Das Mädchen starrte den gebratenen Vogel an, der mit einem dünnen Faden zusammengebunden war und schnurgerade auf ihrem Teller lag. Sein Kopf war mit einer Rosine geschmückt, die wie ein Zylinder wirkte. Die leeren Augenhöhlen und der halb geöffnete Schnabel erweckten den Eindruck, als wäre der Vogel plötzlich durch ein schreckliches Ereignis mitten aus seinen Beschäftigungen gerissen worden, durch ein Ereignis, vergleichbar dem Vesuvausbruch, der Pompeji unter sich begraben hatte.
    »Ich mag kein Fleisch«, murmelte Julie.
    »Das ist kein Fleisch, sondern Geflügel«, korrigierte die Mutter, fuhr dann aber in versöhnlichem Ton fort: »Du willst doch nicht wieder magersüchtig werden. Du mußt bei Kräften bleiben, damit du dein Abitur schaffst und Jura studieren kannst. Nur weil dein Vater sein Examen in Jura gemacht hat, leitet er jetzt die Rechtsabteilung des Forstamtes, und nur weil er diese Position innehat, haben es dir seine entsprechenden Beziehungen ermöglicht, die Abiturklasse noch einmal wiederholen zu dürfen. Jetzt bist du an der Reihe, Jura zu studieren.«
    »Ich pfeife auf Jura!« verkündete Julie. »Du mußt dein Studium schaffen, um voll in die Gesellschaft integriert zu werden.«
    »Ich pfeife auf die Gesellschaft!«
    »Was interessiert dich denn dann?«
    »Gar nichts.«
    »Womit verbringst du deine Zeit? Hast du eine große Liebe?«
    »Ich pfeife auf die Liebe.«
    »Ich pfeife auf … ich pfeife auf … Etwas anderes bekommt man von dir nicht mehr zu hören. Irgendwas oder irgendwer muß dich doch interessieren«, beharrte die Mutter. »So hübsch, wie du bist, müssen die Jungen sich doch um dich reißen.«
    Julie schnitt eine Grimasse. Ihre hellgrauen Augen funkelten.
    »Ich habe keinen Freund, und ich weise dich darauf hin, daß ich noch Jungfrau bin.«
    Das Gesicht der Mutter spiegelte empörtes Erstaunen wider.
    Dann lachte sie schallend: »Neunzehnjährige Jungfrauen gibt es heutzutage nur noch in Science-Fiction-Romanen.«
    »Ich habe weder die Absicht, mir einen Liebhaber zu nehmen, noch will ich heiraten«, fuhr Julie fort. »Und weißt du auch, warum? Weil ich Angst habe, so zu werden wie du.«
    Die Mutter hatte sich wieder gefaßt. »Meine arme Kleine, du bist einfach ein Problembündel. Zum Glück habe ich für dich schon einen Termin bei einem Psychotherapeuten vereinbart.
    Für nächsten Donnerstag.«
    Solche Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter waren nichts Ungewöhnliches. Diese dauerte noch eine ganze Stunde, und Julie verzehrte von ihrem Abendessen nur eine eingelegte Kirsche, die als Verzierung auf der Mousse aus weißer Schokolade lag.
    Der Vater verzog trotz der vielen Tritte, die Julie ihm ans Schienbein versetzte, wie üblich keine Miene und hütete sich, in den Streit einzugreifen.
    »Also, Gaston, nun sag doch was!« forderte seine Frau ihn endlich auf.
    »Julie, hör auf deine Mutter«, erklärte er lakonisch, während er seine Serviette faltete. Gleich darauf stand er auf und sagte, daß er früh schlafen gehen wolle, weil er am nächsten Morgen in aller Frühe mit seinem Hund eine große Wanderung vorhabe.
    »Darf ich mitkommen?« fragte seine Tochter.
    Er schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht. Ich möchte mir die Schlucht, die du entdeckt hast, etwas näher anschauen, und außerdem hat deine Mutter recht – anstatt im Wald herumzulaufen, solltest du lieber büffeln.«
    Als er sich hinabbeugte, um ihr einen Gutenachtkuß zu geben, flüsterte Julie: »Papa, laß mich nicht im Stich.«
    Er tat so, als hätte er nichts gehört. »Träum schön«, sagte er nur und verließ das Zimmer.
    Julie hatte keine Lust auf ein weiteres Zwiegespräch mit ihrer Mutter. Sie tat so, als müßte sie dringend auf die Toilette, verriegelte die Tür und setzte sich auf den Klodeckel. Sie hatte das Gefühl, längst in einen Graben gefallen zu sein, in einen viel tieferen als den im Wald, in einen Abgrund, aus dem niemand sie befreien konnte.
    Um ganz mit sich allein zu sein, machte sie das Licht aus, und um sich zu trösten, summte sie wieder vor sich hin: »Eine grüne Maus lief durchs grüne Gras …«, aber sie verspürte eine schreckliche Leere. Sie fühlte sich verloren in einer Welt, die über ihren Verstand ging. Sie fühlte sich ganz klein, so winzig wie eine Ameise.
     
    9. VON DER
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