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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen
Autoren: Bernard Werber
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daran, auch nur einen Ton hervorzubringen.
    Julie fuhr aus dem Schlaf hoch. Ihre Angst war so groß, daß sie sich sofort vergewissern mußte, ob sie nicht wirklich die Stimme verloren hatte. »A-a-a-a-a-a, A-a-a-a«, brachte sie mühsam hervor.
    Diese Alpträume vom Verlust der Stimme suchten sie immer häufiger heim. Manchmal wurde sie gefoltert, und man schnitt ihr die Zunge ab. Manchmal verstopfte man ihr den Mund mit Lebensmitteln. Manchmal wurden ihr die Stimmbänder mit einer Schere zerschnitten. War es wirklich unvermeidlich, im Schlaf zu träumen? Sie hoffte, wieder einschlafen zu können, und die restliche Nacht an nichts mehr zu denken.
    Als sie einen Blick auf den Wecker warf, stellte sie fest, daß es sechs Uhr morgens war. Draußen war es noch dunkel. Sterne schimmerten hinter dem Fenster. Sie hörte Schritte im Erdgeschoß, Schritte und leises Gebell. Ihr Vater brach, wie angekündigt, frühzeitig zu einem Waldspaziergang mit seinem Hund auf.
    »Papa, Papa …«
    Unten fiel die Tür ins Schloß.
    Julie legte sich wieder hin und versuchte einzuschlafen, aber vergeblich.
    Was verbarg sich jenseits der ersten Seite der Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens von Professor Edmond Wells?
    Sie griff nach dem dicken Buch. Darin war sehr viel von Ameisen und Revolutionen die Rede. Es riet ihr ohne Umschweife, eine Revolution anzuzetteln, und es beschrieb eine Zivilisation, die ihr dabei behilflich sein könnte. Sie riß ihre hellgrauen Augen weit auf. Zwischen kurzen Texten in kleiner Schrift tauchte hier und dort plötzlich – manchmal mitten in einem Wort – ein Großbuchstabe oder eine kleine Zeichnung auf.
    Sie las aufs Geratewohl:
    Der Plan dieses Werkes kopiert den Tempel Salomos. Der erste Buchstabe jedes Kapitelanfangs entspricht einer Maßangabe des Tempels.
    Julie runzelte die Stirn. Welcher Zusammenhang konnte zwischen Buchstaben und der Architektur eines Tempels bestehen?
    Sie blätterte weiter.
    Die Enzyklopädie war ein riesiges Sammelsurium an verschiedenen Informationen, Zeichnungen und Grafiken.
    Gemäß dem Titel enthielt sie didaktische Texte, aber es gab darin auch Gedichte, ungeschickt ausgeschnittene Prospekte, Kochrezepte, Listen von Informatikprogrammen, Zeitschriften-artikel, aktuelle Bilder oder erotische Fotos berühmter Frauen, die wohl den Zweck von Buchillustrationen erfüllen sollten.
    Es gab auch Kalender mit genauen Angaben, wann man welche Gemüse-und Obstsorten pflanzen sollte, es gab Collagen seltener Stoffe und Papiere, Karten des Himmelsgewölbes und Linienpläne der U-Bahnen von Großstädten, Auszüge von Privatbriefen, mathematische Rätsel, perspekti-vische Schemata von Renaissancegemälden.
    Manche Abbildungen waren sehr grausam – Bilder von Gewalt, Tod und Katastrophen. Einige Texte waren mit roter, blauer oder parfümierter Tinte geschrieben. Manche Seiten schienen sogar mit unsichtbarer Tinte oder Zitronensaft beschrieben worden zu sein, und anderswo war die Schrift so winzig, daß man sie nur mit einer Lupe hätte entziffern können.
    Julie entdeckte Pläne imaginärer Städte, Biografien historischer – aber in Vergessenheit geratener – Persönlichkeiten, Ratschläge zur Herstellung seltsamer Maschinen …
    Plunder oder Schatz? Wie auch immer – Julie dachte, daß sie mindestens zwei Jahre benötigen würde, um alles zu lesen.
    Plötzlich blieb ihr Blick auf ungewöhnlichen Porträts haften.
    Sie stutzte, aber sie hatte sich nicht getäuscht: Es handelte sich tatsächlich um Köpfe. Nicht um Menschenköpfe, sondern um Köpfe von Ameisen, allem Anschein nach die Büsten bedeutender Persönlichkeiten. Keine Ameise war mit einer anderen identisch. Die Größe der Augen, die Länge der Fühler, die Form des Schädels variierten beträchtlich. Und unter jedem Porträt stand ein Name, der aus einer Zahlenreihe bestand.
    Julie blätterte weiter.
    Zwischen den Hologrammen, Rezepten und Plänen tauchte das Thema Ameisen wie ein Leitmotiv immer wieder auf. Partituren von Bach, sexuelle Positionen aus dem Kamasutra, Codes der französischen Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg … Welcher eklektische und interdisziplinäre Geist hatte das alles zusammengetragen?
    Biologie. Utopien. Vademekums. Gebrauchsanweisungen.
    Anekdoten über Menschen und Wissenschaften. Techniken der Massenmanipulation. Hexagramme aus dem Yi hing.
    Sie las einen Satz. Das Yi hing ist ein Orakel, das – entgegen einer weit verbreiteten Meinung – nicht die Zukunft vorhersagt,
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