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Die Reisen des Mungo Carteret

Die Reisen des Mungo Carteret

Titel: Die Reisen des Mungo Carteret
Autoren: Gisbert Haefs
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dieser seltsamen Rasse waren reiselustig, ohne je innige Kontakte zu knüpfen. Mungo kannte nur Durtains Melker Tuzimaz näher, und mit diesem hatte er im Lauf von zwei Jahren kein Wort gewechselt. Irgendwann zupfte der Farandiner an dem Seil und zerrte einen Pferdekopf aus dem Fluß, nahm drei Aale heraus und warf die halbverweste Reuse wieder ins Wasser. Er verstaute die Fische in einem Korb und wippte elegant durchs Boot; der an ein Seepferd erinnernde Oberkörper mit den Schlangenarmen bückte sich, kreiselte, richtete sich auf, während der Schemel des Unterleibs wie aus dem Holz des Kahns gewachsen starr blieb.
    Es gab viele Fremde in Paris. Von den 150000 Einwohnern der größten Stadt Mitteleuropas mochte gut ein Viertel von anderen Welten stammen. Die meisten waren anthropoid, oft umweltangepaßte Nachfahren irdischer Kolonisten, aber vermutlich würde nicht einmal ein Kaliban besonders auffallen. Carteret hob die Schultern und ging zu seinem Gleiter.
    Die dichten Wälder des Distrikts Frankreich blieben unter ihm zurück; am späten Nachmittag überflog er die Pyrenäen, entschied sich gegen die geplante Übernachtung in Pamplona und änderte den Kurs. Um halb zehn erreichte er Salamanca, fand ein Hotel in der Nähe des Großen Platzes und hockte bis nach Mitternacht bei Wein, Fisch und Lammbraten in einem der uralten Loka le unter den Arkaden der Plaza. Auf dem Nachttisch in seinem Hotelzimmer sah er einen Lederband mit Zitaten und längeren Auszügen der wichtigsten Noastoiker, bemühte sich vergebens, einen Weg durch die komplizierten Erörterungen des Essentiellen Kerns { * } zu finden und nahm zwei Sprüche von Ashme Zuvarov Chou mit in seine Träume: »Man kann aus Versehen glücklich werden und aus Dummheit klug, aber nicht durch Denken gescheit« und »Ordnung ist Chaos mit Zwangsjacke. Wenn die Maximen deines Handelns Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden können, mußt du entweder irrsinnig sein oder geistig amorph. Wo diese beiden Zustände ineinander übergehen, findet Philosophie statt.«
    Morgens fühlte er sich zerschlagen und reichlich amorph, nach wirren Träumen, in denen Pamelas Du sche, Rheas Sonne und eine Invasion wandernder Broccoli ihn behelligt hatten. Erst am späten Vormittag war er in der Lage, sich wieder mit Xenologie zu befassen.
    Das Seminar befand sich im ältesten Teil der 1650 Jahre alten Universität. Die Spezialistin mochte 33 sein, wie Carteret. Professor Dr. Dr. Aviva Tschitschagow war groß, üppig, aschblond und hatte darauf verzichtet, das irgendwann einmal gebrochene Nasenbein richten zu lassen. Sie betrachtete Carteret aufmerksam mit ihren glasgrünen Augen; Mungo fand den Blick hungrig und wünschte sich, er hätte geduscht und wäre nicht derart unrasiert.
    »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann«, sagte sie. Dann leckte sie sich die Lippen und ließ sich auf einem verchromten Schemel nieder. Der Arbeitsraum – die antike Täfelung war an einer Stelle neben dem mittleren Fenster aufgebrochen und zeigte uralte Steine – enthielt übervolle Eichenregale mit alten Büchern, Glasschränke mit mikrolibros , Stapel mit Ausdrucken, einen glitzernden Terminal für eine Art ultrakompakt und einen halboffenen Schrank mit Bildabzügen, Röhrchen und Präparaten. »Eigentlich bin ich Xenobiologin; was Sie brauchen, ist ein Xenokriminalist.«
    »Das Kriminelle übernehme ich gern – wenn ich nur erst einmal genügend Fakten hätte.«
    »Was für Fakten?«
    Carteret kratzte sich den Kopf und setzte sich auf den Holzboden, da es keine weitere Sitzmöglichkeit gab. »Zum Beispiel Fakten, nicht metaphorische Mutmaßungen über die Körperchemie der Kaliban. Was geschieht wirklich mit ihnen, wenn sie ihren Gelüsten nachgehen. Wie leben sie auf anderen Welten. Brauchen sie Druckanzüge, vertragen sie niedrige Gravitation, derlei. Ein praktisches Beispiel, vielleicht: Der Gesuchte – das Gesuchte? – hielt sich zuletzt im hydroponischen Areal eines Satelliten auf, der zum Frachtumschlag dient. Was will ein Kaliban in der Hydroponie? Und: Außerhalb des hydroponischen Trakts liegen Bereiche unterschiedlicher Schwerkraft und unterschiedlicher Luft, je nach zu lagernden Waren und den Bedingungen ihrer Herkunftswelten. Wenn ich wüßte, wie ein Kaliban biologisch funktioniert, könnte ich versuchen, seinen Weg zu rekonstruieren. Wenn er, sagen wir, eine heiße Methanatmosphäre plus drei bis vier Gravos verträgt …«
    Aviva Tschitschagow nickte, holte tief Luft
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