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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki
Autoren: Christiane Gibiec
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zu
Boden. »Eine kleine Runde, das geht. Ich arbeite als
Gesellschafterin bei Tilla vom Baum im Briller Viertel, nachher
muss ich noch mal hin.«
    »Gratuliere, da bist du doch
wenigstens vom Ehejoch verschont geblieben. Meine Mutter hat
zurzeit keinen anderen Gedanken, als mich unter die Haube zu
bringen. Ein Eberfelder Geschäftsheini soll es sein, möglichst
einer, der bei uns einsteigen kann. Aber ich denke nicht dran, zu
heiraten, den Teufel werde ich tun, mich unter die Knute von
irgendso einem Wilhelm zu begeben, der sowieso nur erpicht auf
meine Mitgift ist.«
    Adele Honscheid hatte den
Sammelbegriff »Wilhelm« für eine gewisse Sorte konservativer Männer
geprägt, die nach kaiserlichem Vorbild aufgezwirbelte Schnurrbarte
trugen und mit der Stimme schnarrten. Anna hatte die Bezeichnung
begeistert aufgegriffen und verwendete sie seitdem bei jeder
passenden Gelegenheit.
    Lina hängte sich bei Anna ein und
lächelte, trotzdem machte sie einen traurigen und müden Eindruck,
als wäre sie voller Kummer. Arm in Arm stiegen sie den steilen Weg
zur Hardt hoch und wanderten über die kiesbestreuten Wege des
Parks.
    »Diese feinen Damen sind auch nicht
einfach, manchmal schikanieren sie einen ganz schön herum«, sagte
Lina. »Aber sicher immer noch besser als so ein schnauzbärtiger
Ehemann. Erzähle, Anna, was hast du getrieben? Und was hast du vor?
Du müsstest doch mit der Schule fertig sein?«
    »Zurzeit bin ich schrecklich im
Zwiespalt«, seufzte Anna, »eigentlich wollte ich ja eine Weile im
Geschäft arbeiten, dann Ökonomie studieren und anschließend den
Laden übernehmen. Aber jetzt war ich ein halbes Jahr in Berlin, und
ich glaube, ich kann mich hier in Elberfeld überhaupt nicht mehr
zurechtfinden. Meine Mutter ist schrecklich, ich verstehe mich gar
nicht mit ihr. Und Papa wird immer schwieriger, aus ihm wird kein
Mensch mehr klug.«
    Lina schwieg, schließlich fragte
sie: »Und, wie ist Berlin? Hast du dich wohl gefühlt?«
    »Wohl gefühlt ist gar kein Ausdruck.
Ich möchte zurück, Lina, ich will nicht in diesem Nest bleiben. Es
ist so spannend in Berlin, es passiert eine Menge, und es gibt
hochinteressante Leute.«
    Anna berichtete von einer Lesung,
die die aus Elberfeld stammende Dichterin Else Lasker-Schüler im
Neopathetischen Cabaret gehalten hatte. Sie hatte aus ihrem
Schauspiel »Die Wupper« vorgetragen, das bisher noch von keinem
Theater aufgeführt worden war.
    »Ich verstehe das nicht, es ist das
Schönste, was ich jemals über dieses mickrige Tal gehört habe.
Voller Poesie, eine Sprache wie ein Wunder. Die wirklichen Genies
werden immer verkannt.«
    »Ist sie nicht eine sehr
exzentrische Frau?«
    »Ja, sie wirkte auch, als sei sie
ein bisschen durcheinander, schäbig gekleidet, ziemlich verrückt.
Aber trotzdem sehr, sehr faszinierend.«
    Lina erkundigte sich nach der
Berliner Frauenbewegung, und Anna schwärmte von den interessanten
Veranstaltungen, die sie besucht hatte.
    »Das Problem ist nur«, sagte sie,
»dass die Frauen sich untereinander zerstreiten, und solange sie
nicht an einem Strang ziehen, haben die Chauvinisten leichtes
Spiel. Vor zwei Jahren wurde Helene Stöcker doch tatsächlich von
einigen Mitarbeiterinnen angegriffen und öffentlich bloßgestellt,
nur weil sie unverheiratet mit dem Rechtsanwalt Bruno Springer
zusammenlebt.«
    Lina berichtete von ihrer Kölner
Zeit, wo sie als Verkäuferin in einem Geschäft für Damenbekleidung
gearbeitet und sich ebenfalls der Frauenbewegung angeschlossen
hatte. Dort hatte sie ähnliche Erfahrungen gemacht wie Anna. Vor
einem Jahr war sie zurück nach Elberfeld gekommen, weil ihre Mutter
kränkelte und sie in ihrer Nähe sein wollte. Sie wohnte zur
Untermiete in einem Haus an der Hardt bei Hedwig Döring, der Witwe
eines Sozialdemokraten. Hier traf sich regelmäßig eine Frauengruppe
und sorgte dafür, dass Lina sich schnell wieder heimisch in
Elberfeld fühlte. Mit leuchtenden Augen erzählte sie von Rosa
Luxemburg, die im vergangenen Jahr eine Vortragsreise durch die
bergischen Städte gemacht hatte. »Ein Erlebnis, eine beeindruckende
Persönlichkeit, du hättest sie sehen sollen. Ich bewundere ihre
Tapferkeit, ich weiß nicht, ob ich es immer wieder riskieren würde,
im Gefängnis zu landen.« 
    Annas Augen schleuderten Blitze. »Je
mehr sie uns unterdrücken, desto größer wird unser Widerstand.
Schließlich haben die Sozialdemokraten nie einen solchen Zulauf
gehabt wie unter den Sozialistengesetzen. Und das ist bei
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