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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki
Autoren: Christiane Gibiec
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Glockenton von sich gab und spiegelte, dass ihr Retter immer
noch herübersah. Stöhnend ließ Anna sich auf einen der gepolsterten
Sessel fallen, die verteilt in dem eleganten Raum
standen.
    »Was redest du, Tante Louise, wir
sind doch nicht im Mädchenpensionat. Ich bin ein erwachsener
Mensch.«
    Louise machte mit der Hand
beschwichtigende Zeichen und deutete auf den zweiten Ladenraum, in
dem die Verkäuferin Else Kriebel herumwirtschaftete und das Regal
mit den Posamentierwaren ordnete.
    »Du kannst Mittag machen, Else«,
rief sie der adrett gekleideten, aber unscheinbar wirkenden
Vierzigerin zu, »ich sperre gleich ab.«
    Else Kriebel band ihre weiße,
spitzenverzierte Schürze ab, hängte sie ins Kontor und wünschte
knicksend eine gesegnete Mahlzeit. Im hinteren Teil des Hauses
polterten die Kürschner und die Nähmädchen aus der Werkstatt in der
ersten Etage die Treppe hinunter. Anna half Louise, die Capes und
Stolen wegzuhängen, die am Vormittag anprobiert worden waren, dann
schloss sie die Ladentür ab.
    Sie war gerade aus Berlin
zurückgekehrt, wo sie sich als Belohnung für ihr gutes Abitur ein
halbes Jahr lang Großstadtluft um die Nase hatte wehen lassen
dürfen. Jetzt sollte sie ein Praktikum im väterlichen Geschäft
ablegen, um sich darüber klar zu werden, ob sie die Handelslaufbahn
einschlagen und den Laden später einmal übernehmen
wollte.
    Louise Brüninghaus, die ältere und
unverheiratete Schwester von Annas Mutter Emma Salander, war
einerseits froh, Anna, ihren Augapfel, wieder zu Hause zu haben,
andererseits fürchtete sie die Auseinandersetzungen zwischen Mutter
und Tochter, die schon immer heftig gewesen und nach Annas Rückkehr
vor zwei Wochen wieder aufgeflammt waren.
    Annas Erziehung war von Anfang an
ein Streitpunkt zwischen den Eheleuten Salander gewesen. Ihr Vater
Pekka, ein Finne, der seit dreiundzwanzig Jahren in Elberfeld
lebte, liebte seine Tochter abgöttisch. Schon als Säugling, wenn
sie selig strampelnd auf seinem Schoß lag, hatte er ihr immer
wieder ins Ohr geflüstert, sie werde mal eine freie Frau, eine
richtige Finnin, die sich von keinem etwas vorschreiben lassen
müsse. Studieren werde sie, wie das viele finnische Frauen bereits
täten, und einen guten Beruf haben, stolz, frei und selbstständig
werde sie leben, von keines Mannes Gnade abhängig. Und als vor
sechs Jahren das Frauenwahlrecht in Finnland eingeführt wurde,
hatte er sich aufgeführt, als sei das sein persönlicher Verdienst,
er beschimpfte die Deutschen als reaktionär und warf ihnen vor, sie
hätten nur Angst vor der Kraft und den Fähigkeiten der
Frauen.
    Anna war ein temperamentvolles Kind
gewesen, ihre Wutanfälle waren legendär, und wenn sie ihren Willen
nicht bekam, stand sie mit hochrotem Kopf vor ihrer Mutter, schrie
wie am Spieß und stampfte mit den Füßen. Wenn Emma schimpfte, dass
sie ein verzogenes Blag sei, und ihr Schläge androhte, lief sie zu
Pekka und versteckte sich auf seinem Schoß. Er wiegte seine Tochter
und sagte zu seiner Frau, man müsse sie mit Worten überzeugen,
Prügel würden einen Menschen zerstören, worauf Emma die Augen
verdrehte und sich an den Kopf fasste.
    Gegen Emmas entschiedenen Widerstand
hatte Pekka durchgesetzt, dass Anna, nachdem sie die höhere
Töchterschule absolviert hatte, zu Thekla Lande kam, einer
Elberfelder Sozialdemokratin, die in ihrer Privatwohnung in der
Luisenstraße junge Mädchen auf das Abitur vorbereitete; dieses
konnten sie dann extern in Remscheid ablegen. Dort wurde, wie Emma
befürchtet hatte, nicht nur Deutsch, Mathematik und Geschichte
gelehrt, sondern auch über Politik und Gleichberechtigung
diskutiert.
    Der Unterricht war bei Anna auf
fruchtbaren Boden gefallen und hatte schon damals zu heftigen
Disputen geführt.
    Der Berlinaufenthalt tat ein
Übriges.
    »Ich hätte es wissen müssen, man
hätte sie diesem verderblichen Gedankengut nicht aussetzen dürfen«,
klagte Emma Salander, wenn wieder einer von Annas Briefen aus der
Hauptstadt mit begeisterten Schilderungen von Versammlungen,
Vorträgen und Demonstrationen der Frauenbewegung eintraf. »Aber ihr
Vater hat ihr ja alle verrückten Ideen durchgelassen, und nicht nur
das, sogar ermutigt hat er sie, ja, ja, die Frauen müssen für ihre
Rechte kämpfen. Emanzipation, wenn ich das schon höre!«
    Emma hasste die Frauenrechtlerinnen,
die singend durch die Straßen marschierten, das Wahlrecht, die
freie Liebe und das Recht auf legale Abtreibung forderten und
überhaupt jegliche
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