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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki
Autoren: Christiane Gibiec
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Amoralität für normal erklärten. »Die sollen
sich doch gleich Bärte wachsen lassen, das ist doch unnatürlich,
das schlägt ja jeden Mann in die Flucht. Vielleicht brauchen die
Frauen in Pekkas finnischem Urwald Emanzipation, wir hier ganz
bestimmt
nicht.«          
    Anna hatte in Berlin bei Adele
Honscheid, der Tochter des konservativen, ebenfalls am Wall
ansässigen Tuchhändlers Heinrich Honscheid, zur Untermiete gewohnt.
Adele war schon vor einigen Jahren gegen den erbitterten Widerstand
ihrer Eltern der Elberfelder Frauenrechtlerin Helene Stöcker nach
Berlin gefolgt und hatte dort Literatur studiert. Schon während des
Studiums hatte sie angefangen, als Journalistin zu arbeiten, und
schrieb für die von Helene Stöcker herausgegebene Zeitschrift »Die
Neue Generation« und einige literarische Blätter. Den Kontakt zu
ihren Eltern hatte sie abgebrochen, nur einmal noch war sie nach
Elberfeld gekommen und hatte um die Auszahlung ihres Erbes gebeten.
Ihr Vater hatte ihr wortlos einen Scheck hingeschoben zusammen mit
einem Dokument, auf dem sie durch ihre Unterschrift besiegeln
musste, dass sie auf alle weiteren Ansprüche zugunsten ihrer beiden
Brüder verzichtete. Außerdem hatte er ihr harsch mitgeteilt, so ein
emanzipiertes Weibsbild könne er nicht mehr als seine Tochter
betrachten. Adele hatte mit den Achsein gezuckt, sich eine
Zigarette angesteckt und ihm den Rauch ins Gesicht geblasen. Nach
außen tat sie, als könne sie gut ohne ihre Familie leben, das sei
der Preis der Freiheit, sagte sie leichthin, aber ihre Augen wurden
doch dunkel, wenn die Rede auf Elberfeld kam.
    Adele hatte Anna in die Berliner
Frauengruppen eingeführt und ihr prophezeit, dass es schwierig
werden würde, wenn sie nach Hause zurückkehrte. »Komm nach Berlin
und fange ein Studium an«, hatte sie gelockt, »Literatur, Ökonomie,
Medizin, das steht uns doch alles offen. Du weißt jetzt, was
Unabhängigkeit ist, im Leben wirst du es nicht aushalten, wenn dir
deine Eltern und deine Tante ständig im Nacken sitzen.«
    Wie Recht sie gehabt hatte. Anna
hatte schon mehrmals bereut, sich auf den Vorschlag ihres Vaters
eingelassen zu haben, eine Zeit lang im Geschäft zu arbeiten. Die
Stimmung zu Hause war nicht gut, ihre Eltern lagen ständig im
Streit, und ihr Vater machte einen todunglücklichen Eindruck. Er
sprach zwar nicht über das, was ihm auf der Seele lag, aber Louise
hatte gerüchteweise gehört, der Kürschnermeister Elias Schlipköter,
der zwanzig Jahre lang Pekkas rechte Hand gewesen war, wolle das
Geschäft verlassen. Das Warenhaus Tietz plane zum Winter die
Eröffnung einer Pelzabteilung, und ausgerechnet Heinrich Honscheid,
der sein Geschäft zu Beginn des Jahres 1912 verkauft hatte, sollte
die Leitung übernehmen. Und der habe Schlipköter ein gutes Angebot
gemacht. »Wo Pekka diesen konservativen Knochen doch immer schon
gefressen hat«, flüsterte Louise.
    Die Stimmung war also explosiv, und
Louise schwante, dass die nächste Detonation unmittelbar vor der
Tür stand. Emma plante für den Abend einen Theaterbesuch im
»Thalia« am Islandufer. Eine Galavorstellung des Schwankes
»Polnische Wirtschaft« wurde gegeben, ein großer Heiterkeitserfolg
beim Publikum, wie die Zeitungen meldeten. Emma wollte sich gern
vor der Elberfelder Gesellschaft mit ihrer einzigen Tochter zeigen,
dabei spielte die Überlegung mit, dass es an der Zeit war, sich
nach einem passenden Schwiegersohn umzusehen. Dass Anna selbst
später einmal das Geschäft übernehmen sollte, empfand Emma als
Hirngespinst. Nie im Leben würden die Kunden eine Frau akzeptieren,
viel gescheiter sei es doch, Anna würde einen Mann aus der Branche
heiraten, der Pekka entlasten und womöglich noch durch eine gute
Einlage die Kapitaldecke stützen konnte. »Da hätten wir zwei
Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, versuchte sie, Pekka die
Sache schmackhaft zu machen. Der winkte jedoch entrüstet ab, seine
Tochter werde nicht verschachert, sie werde selbst über ihr Leben
entscheiden und sich den Mann aussuchen, den sie liebe.
    So hatte Emma beschlossen,
diplomatisch vorzugehen. Vielleicht fand sich ja ganz von selbst
jemand, der Anna gefiel und dem sie sich fügen würde, jedenfalls
einigermaßen. Man musste Gelegenheiten schaffen, und Emma hatte
sich schon die gesellschaftlichen Termine dieses Sommers notiert.
Die Gala der »Polnischen Wirtschaft« sollte den Anfang machen, und
Emma hatte, damit Anna am Abend eine gute Figur machte, die
Schneiderin mit
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