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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki
Autoren: Christiane Gibiec
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    1
    Zurück in Elberfeld
    Gegen so einen Palast kommen wir im
Leben nicht an, dachte Anna Salander, als sie an dem neuen Rathaus
vorbeiging und den Neumarkt mit dem Neptunsbrunnen in der Mitte
überquerte. Vor ihr lag in seiner ganzen Pracht das gerade
eröffnete Warenhaus Tietz, das eine Seite des Platzes einnahm und
sich ein ganzes Stück die Neumarktstraße und den Wall hinunter
erstreckte. Mit seinem sich nach oben verjüngenden Giebel und dem
kreisrunden Fenster darin erinnerte es an ein mächtiges Schiff.
Menschen strömten durch den Haupteingang, auch Anna ließ sich
hineintreiben und schlenderte durch die zahllosen Abteilungen des
Erdgeschosses. Überall waren Werbetafeln angebracht und
annoncierten Kleidung, Schuhe und Lebensmittel zu günstigen
Preisen. In dem eleganten Erfrischungsraum nahm sie einen Kaffee
und beobachtete die Elberfelder Hausfrauen, die die neue Warenwelt
bestaunten und emsig ihre Einkäufe tätigten.
    »Über achthundert Angestellte«,
hatte ihr Vater morgens beim Frühstück missmutig gesagt, »kannst du
dir vorstellen, was die für Umsätze machen? Der Tietz eröffnet ja
einen Palast nach dem anderen, der kann so günstig einkaufen, dass
wir kleinen Händler überhaupt keine Chance mehr haben, wir können
bald alle zumachen.«
    Anna verließ das Warenhaus durch den
Ausgang zum Wall, über den der Mittagsverkehr in Richtung Bahnhof
und Döppersberg brauste. Wie in Berlin mischten sich auch hier
immer mehr Automobile zwischen die Pferdedroschken und verpesteten
die Luft mit blauen Abgasen, dazwischen quietschte die Straßenbahn.
Elberfeld wuchs explosionsartig, an die Stelle der meisten
Fachwerkhäuser, die den Wall noch vor einigen Jahren gesäumt
hatten, waren mehrstöckige, mit Stuckornamenten und
schmiedeeisernen Balkongittern prächtig verzierte Geschäftshäuser
getreten.
    Schon von weitem leuchtete ihr der
goldene Schriftzug des Pelzhandels Salander
entgegen, dessen Schaufenster auf der anderen Straßenseite die
Front eines fünfstöckigen Jugendstilhauses einnahm. Annas Tante
Louise Brüninghaus trat aus der Ladentür und winkte, Anna wollte
die Straße überqueren, fand aber keine Lücke zwischen den
spuckenden und ratternden Fahrzeugen. Schließlich setzte sie einen
Fuß auf die Fahrbahn, wurde jedoch im gleichen Augenblick heftig
zurückgerissen. Eine Droschke, deren schnauzbärtiger Kutscher
ungerührt auf seine Pferde einpeitschte, raste vorüber.
    »Hoppla, das war knapp!«
    Sie fand sich in den Armen eines
jungen Mannes mit braunen, schräg geschnittenen Augen und
zerzausten dunklen Locken wieder. Einen Moment lang wollten ihr die
Beine wegknicken, dann besann sie sich und riss sich
los.
    »Was fällt Ihnen ein, lassen Sie
mich gefälligst los! Und dieser Wilhelm da, dieser Schnauzbart!
Unverschämtheit! Das war ein Angriff, Körperverletzung, jawohl!«
Sie schäumte, blonde Locken hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst
und umringelten ihr wutentbranntes Gesicht.
    »Männer!« Sie funkelte ihn aus ihren
blaugrünen, ein wenig eng zusammenstehenden Augen an, ihr breiter,
geschwungener Mund zitterte, die Flügel ihrer langen, geraden Nase
bebten vor Empörung.
    Der Mann trat einen Schritt zurück
und verbeugte sich formvollendet. Samtene, bräunliche Haut,
spöttischer Blick. Locker geschnittener Anzug, kein Stutzer.
Eigentlich ganz passabel.
    »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe
treten, entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein. Blank, mein Name,
Hugo Blank.« Er sprach ein weiches Rheinisch und lächelte. »Es wäre
schade gewesen, wenn Ihnen was zugestoßen wäre.«
    Anna schämte sich, weil ihre Knie
immer noch zitterten, gleichzeitig stieg ihre Wut. Musste sie sich
bedanken? Hatte er ihr das Leben gerettet? Ach was, Männer spielten
sich gerne auf und ließen sich als Helden feiern.
    »Guten Tag, der Herr.« Sie nickte
spitz in seine Richtung, musste allerdings erst zwei schrill
klingelnde Straßenbahnen und eine Reihe Automobile abwarten, ehe
sie ihm entkommen konnte. Er sah ihr nach, und sie schwenkte
unwillkürlich die Hüften, während sie über die Fahrbahn lief und
Tante Louise ansteuerte, die aufgeregt mit den Armen
ruderte.
    »Was machst du für Sachen, Annakind,
du lieber Himmel, da wird einem ja angst und bange. Da läuft sie
fast unter die Droschke. Und was war das für ein Mann? Du weißt
doch wohl, dass man sich nicht ansprechen lässt?«
    Anna schob Louise hinein und schloss
die gläserne Ladentür mit den verschnörkelten Gravuren, die einen
zarten
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