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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit
Autoren: Andrej Djakow
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unnatürliche Bewegung mit dem Arm und hatte plötzlich einen Marinedolch in der Hand, der zuvor im Ärmel seines Leinenhemds versteckt gewesen war. Die Wachmänner wollten schon auf ihn losgehen, doch der Administrator hielt sie mit einer Geste zurück. Der alte Mann schnitt sich in die Hand, wartete, bis die Klinge mit Blut getränkt war, dann holte er aus und rammte den Dolch mit überraschender Wucht in einen Spalt zwischen den Bodenplatten. Das hallende Geräusch ließ viele der Anwesenden zusammenzucken. Mit gesenktem Haupt verließ der Greis die Rednerbühne und trottete langsam zum Ausgang der Station.
    Erst als Großvater Afanassis Silhouette im Dunkel des Tunnels verschwunden war, kam wieder Bewegung in die Versammelten . A ls würde ein Bann von ihnen abfallen, mit dem der Alte sie in seinem Zorn belegt hatte . A ls hätte soeben nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut vor ihnen gestanden, sondern ein Trugbild. Eine kollektive Halluzination. Der zwischen den Bodenplatten steckende Dolch bewies indes das Gegenteil. Der außergewöhnliche Besucher war ebenso real gewesen wie das Ultimatum, das er gestellt hatte.
    Im Betonlabyrinth des Abwasserkanals war das Tappen ihrer nackten Füße praktisch nicht zu hören. Nur dort, wo am Boden der Röhre Wasser floss, verriet ein gelegentliches Plätschern ihre Anwesenheit . A m Ende des Kanalabschnitts gelangten sie in einen geräumigen Kontrollschacht. Im Mondlicht, das durch das Gitter des Kanaldeckels fiel, wurden Details der seltsamen Gestalten sichtbar, die da lautlos durch den Untergrund schlichen: nackte Oberkörper, zerzaustes Haar, dornenbesetzte Unterarmbänder, grob geschnittene Lederröcke im Stil schottischer Kilts. Die Gesichter der Männer waren von schlampig gewickelten Stoffbinden verhüllt. Nur einer trug eine primitive, alte Atemschutzmaske. Kurze Speere und schartige Macheten ergänzten die martialische Aufmachung der exotischen Krieger.
    Nachdem der Trupp den offenen Raum durchquert hatte, verschwand er auch schon in der nächsten Betonröhre. Der Mann mit der Atemschutzmaske führte ihn sicher durch das unterirdische Labyrinth, das er augenscheinlich in und auswendig kannte. Hin und wieder blieb er stehen und rief einen der Krieger zu sich. Der stellte dann einen Käfig vor sich hin, in dem ein merkwürdiges, entfernt an eine Ratte erinnerndes Tier hockte, und beobachtete aufmerksam dessen Verhalten. Einmal lief die kleine Bestie aufgeregt umher und stieß alarmierte Schreie aus. Offenbar witterte sie eine tödliche Gefahr. Die Krieger beherzigten die Warnung ihres »tierischen Dosimeters« und änderten unverzüglich die Marschroute.
    Der Umweg hielt jedoch eine unangenehme Überraschung bereit: Der Tunnel endete plötzlich an einem gähnenden Abgrund. Der gigantische Riss in der Erde erstreckte sich über gut hundert Meter Länge. Darüber schimmerte in einem schmalen Streifen das dämmrige Licht der ausgehenden Nacht. Die gegenüberliegende Seite der Erdspalte war etwa fünf Meter entfernt und offenbarte einen aufschlussreichen Querschnitt durch den erdnahen Untergrund: verschiedene Bodenschichten, Höhlen unbekannter Bewohner der neuen Welt, Überreste von Fundamentplatten, rostige Rohre von Fernwärmetrassen …
    Die Männer berieten sich kurz, dann warf einer von ihnen ein Lasso über ein hervorstehendes Rohrstück auf der anderen Seite. Während sich die Krieger nacheinander über den Abgrund hangelten, beobachtete ihr Anführer durch das Visier seiner Armbrust aufmerksam den Himmel. Raubtiere, die es auf Menschenfleisch abgesehen hatten, gab es hier mehr als genug.
    Nachdem das Hindernis überwunden war, setzten die Männer ihren Weg durch das unterirdische Labyrinth fort, schlängelten sich durch ausgediente Kabelschächte und kletterten über die Schutthalden halb eingestürzter Verbindungstunnel . A b und an ließ sich einer auf den Boden nieder und sondierte lauschend die Lage.
    Als die Krieger an einem Seitengang vorbeikamen, aus dem menschliche Stimmen drangen, löschten sie den Großteil ihrer Fackeln und gingen besonders vorsichtig weiter, um sich durch kein noch so leises Rascheln zu verraten. Ganz in der Nähe verlief eine Metrolinie. Nur wenige Meter Erde trennten die Männer von einer bewohnten Station, doch diese war nicht das Ziel ihres Streifzugs.
    Sie hatten die Gefahrenzone schon fast durchquert, als aus der Finsternis plötzlich etwas Schwarzes, Lebendiges hervorschnellte, das sich im Flug zudem wie eine Spiralfeder
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