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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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Da sie aber hingingen, sie zu begraben,
    fanden sie nichts von ihr denn den Schädel
    und die Füße und ihre flachen Hände.

    2. Könige 9, 35

    D er Zug kam vier Minuten nach sieben Uhr an. Als die Schaffner die Reisenden weckten, um ihnen die wegen nächtlicher Grenzkontrollen einbehaltenen Ausweise zurückzugeben, schlug man in seltsam verschlafener Heiterkeit die Augen auf. Ansgar hing das beständige Rollen des Zuges im Leib. Einige Zeit schmeckte er dem dösend nach. Den Schlummer grundierte eine mählich wallende, eskalierende Unruhe. Sich konzentrieren. Ein letztes Rucken. Dann stand der Zug. Menschen und Koffer drängten vor den Abteilen. Jetzt erst zog Ansgar Hemd und Jeans an, derer er sich nachts unter einem Reiseplaid entledigt hatte, stopfte seine Siebensachen zusammen, streifte den Regenmantel über, halfterte Reise- und Umhängetasche und verließ den Waggon. Im Jackett steckte die eingerissene, verknüllte, mehrmals geglättete Zeitungsseite. Im Dunklen war er abgereist, im Dunklen kam er an. Er hatte eigentlich nicht das Gefühl, weggefahren zu sein.
    Im Ostbahnhof waberte müde Betriebsamkeit; noch zwar waren die Läden überwiegend geschlossen, aber um zwei Bartheken knäulten sich Trauben von Leuten, die, wie weiterhin in Träumen hängend, sich gedämpft unterhielten. Auch Ansgar nahm einen kurzen Kaffee. Danach entschlurfte er dem Hauptportal, witterte in die für November erstaunlich warme Luft und straffte sich. Es schien ihm noch zu früh, nach einem Hotel zu schauen. Er wandte sich nach rechts, tat ein paar Schritte. Um die Ecke, weiter hinten neben dem Gebäude, führte eine Treppe, in die die Straße überging, neben den rechts unten verlaufenden Geleisen entlang. Indem Ansgar ihr folgte, sah er in der von glitzernden Lampenpartikeln durchsetzten, funkelnden Dunkelheit über das Bahnhofsgelände und das östliche Stadtareal, über welchem erste Dämmerung hing. Drüben stürzte sich eine wuchtige Häuserzeile, ein Felshang, schwarz auf die Geleise hinab. In wenigen Fenstern schimmerte rechtwinklig Licht. Männer in Popelines passierten das Szenario, Regenschirme oder Mappen unter die Arme geklemmt. Es tat Ansgar wohl, ihnen nicht aufzufallen. Englische Wortschnipsel umflatterten ihn. Er lächelte matt, fast zufrieden, ein bißchen dumm.
    Ein letztes Mal, wie zum Abschied, nahm er an dem weiten Rangierbetrieb wie der Bahnhofsrückfront Maß -, dann, die Straße überquerend, schon wie gezogen, ja verführt, schritt er in die nächste schräg nördlich biegende Straße, am Lyzeum vorbei, auf den breiten, aber noch kaum befahrenen Wall schließlich rechts. An Läden, verglasten Gaststätten und Mauerrissen hing Orient. In erstaunlicher Anzahl und Eile spien kleine Busse Schwarze in grünem Ölzeug aus, die mechanisch die Straßen zu fegen begannen. Dann erschien, würdevoll verhüllt, ein Beduine, den Allah weiß welches Geschäft durch das Viertel zog.
    Ansgar erreichte einen verbauten Platz, eine Halde voll Schutt, umgeworfener Bauzäune und Plastikmüll. Man schien begonnene Tiefarbeiten aufgegeben zu haben. Er stand für zwei Minuten und lauschte. Jemand schob blechlamellene Fensterläden beiseite: eine brünette Frau mit Lockenwicklern, im Bademantel. Auf dem schmalen Balkon trat eine rosafarbene Pusche gegen sperrige Streben. Nicht nur ratterte erhöht auf der Metallüberführung, die in weiter Kurve um den Platz bog, eine Tram. Nicht die jetzt über die nachtnasse, teils aufgerissene Asphaltierung rauschenden Pneus waren es, was Ansgar lauschen ließ -, sondern er hatte einen völlig anderen, eher singenden Laut wahrgenommen. Gewissermaßen hing wie Nebel eine Stimme über Pflaster, Erdreich und Zementkarren, als streuten sie die Platanen, die links die Allee hinaufstanden, wie Samen aus. Der Wind fächerte ihn in Ansgars Bewußtsein.
    Es war über sein Dämmern hell geworden und, als er in die Realität zurückfand, nervig die Stadt ausgebrochen. Er kniff die Augen zusammen, schwenkte in die Allee und folgte ihr ein Stückchen. Sie führte nach vielleicht einem halben Kilometer auf ein Hochhausund Neubaugebiet. Das ernüchterte Ansgar nun gänzlich. Und dann, zur Seite ein Zement- und Glasgebäude, erschrak er sogar; ein weniger furchtsames oder scharfes Zusammenzucken war dies als ein bereits im ersten Moment bezwungenes, gleichsam inhaftiertes Gefühl. Ansgar fror. Leichter Nieselregen setzte ein. Man schlug den Mantel fester um sich, warf die Riemen der in der Schulter ziehenden
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