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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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werden, Jézabel. Draußen durchbrach glanzvoll der Sonnenball die Morgenschleier. Ja: Jézabel. Nix mehr Abèl und Advise. Damit geht es schon mal los.
    Er stand, voll heller Intelligenz, im Zimmer, knöpfte das Hemd zu, warf immer wieder seine Blicke auf die Schlafende, die er jetzt erst, nämlich auf eine nüchterne, weltliche Weise, zu lieben begann. Schlüpfte ins Jackett, nahm den Mantel von der Sessellehne.

    D as Schloß schnappte. Für einen Moment erinnerte das an jenes häßliche letzte Klicken des Türmechanismus aus der Rue Bellot. Aber er wischte den Eindruck weg. Wir brauchen Brot und Butter. Er wandte sich um. Kein Klingelschild. Ging zum Aufzug, fuhr hinab, trat in die plötzlich aufgewachte Straße. Spitzes Rufen, Geratter, Brummen von Motoren. Die Welt. Zufallende Autotüren, Hupen, Preßlufthämmern vom Neubau her. Auch saß der Bettler vorm ›Tertre d’Or‹, den Pudelmischling zur Seite. Beide ignorierten den jungen Mann. Der spazierte zehn Meter weiter, blieb stehen, sah zurück. Bruder Jakob schnüffelte am Boden, stand auf, räkelte sich, gähnte. Wischte mit der Schnauze am Boden, leckte. Möglicherweise spürte der Bettler Ansgars Blick, und, den Kopf hebend, erwiderte er ihn, nicht leidend, nein, selbstbewußt, durchaus kalt. Ansgar drehte den Kopf weg, ärgerte sich und beschloß, nachher ein paar Münzen in die Zigarrenkiste zu werfen.
    Die gedämpfte Unterhaltungsmusik hätte es sein können oder auch eine junge Kassiererin, die in fleckigem, blauem Kittel für einen Moment aus ihrem enger Stuhl hochkam, hinter sich griff, eine kleine Papierrolle nahm, die Plastikverschweißung aufriß -, oder das Gewisper zweier alter Damen, die links bei den Schokoladeriegeln standen -, oder die Keksschachtel, die einem Ladendieb aus der Hand fiel, der sich, scheinbar verwirrt, bückte, um sie aufzuheben, wobei er sich irgend einen anderen Artikel geschwind in den Parka steckte -, oder nur ein flüchtiger Blick über die außer mit Werbeplakaten beklebten Schaufensterscheiben -jedenfalls etwas von solch präziser Banalität, daß man erschrak. Ein dumpfer Ton, als wäre das vorsichtige, lockende Singen und Sirren in Drohung invertiert, wälzte sich, das Stimmrollen eines Tigers, der sein Wild täuscht, über den Boden, stieg an, als hätten die Fundamente, die Wände, hätte der gesamte Supermarkt wie ein unter den Tag gelegter Orgelpunkt zu schwingen begonnen. Aus der von versteckten Boxen in den Raum gestreuten Unterhaltungsmusik drückte er sich in die Eigenfrequenz der Häuser, und Ansgar, ganz plötzlich, erinnerte sich. Er schrie auf. ›Françe Soir‹, ›Françe Soir‹! Um Gottes willen! Er ließ seinen Einkaufswagen stehen, rannte los. 9. April! Er warf sich in die Schlange vor einer Kasse Wartender, stieß die Leute grob, in Panik, beiseite, stürmte hinaus. Und da tat Jézabel diesen Schrei. Aber nicht nur sie dort oben schrie, schrie aus einem Fenster des zwölften Stockwerks, nein, unter den Platanen und um das kleine Karussell lief ein unendlich verstärktes Echo zusammen, ballten sich kreischende, schreiende, brüllende Frauen, Männer und Kinder in dem sich stauenden, hupenden Verkehr. Ich warf, vereist bis ins Mark, den Kopf in den Nacken. Jézabel fiel stumm in sich selbst und alle zwölf Stockwerke hinab. Da traf mich ihr Blick. Sie legte unerbittlich ihr Wesen hinein.
    Es währte Minuten, daß sie fiel. Ich streckte meine Arme aus nach ihr, lang, hilflos. Lachte. Befreit. Dann schlug ihr Körper aufs Pflaster, zerschmetterte vor dem Bauchrumpf des Bettlers, bespritzte Wände, Scheiben, Gaffer und Autos. Schaulust umscharte den Richtplatz. Ich hatte den Hund davonstieben sehen. Er blieb zögernd irgendwo stehen, schnüffelte zwischen Menschenbeinen zurück, und dann, ich war gerade durch die Massen hindurch, mit einem Triumphgeheul, als hätte er darauf seit langem gelauert, stürzte er sich auf die Leiche, leckte an ihr. Bevor ihn Fußtritte vertrieben, riß er einen Fetzen aus der fleischigen, knochigen Grütze und lief knurrend, voll Blutlust, davon. Ich konnte mich vor Kälte und Freiheit nicht rühren. Die Körperteile lagen verstreut, hier der splittrige, gehirnverschmierte Schädel, dort Jézabels Beine und vor meinen Füßen ihre flachen Hände. Dann der Dopplereffekt einer Polizeisirene.

    W ollen Sie rein?«
    Ansgar, aus dem Traum gerissen, starrte einem jungen Menschen eher überrascht als mißtrauisch ins Gesicht, stammelte etwas. Der Mann im Trenchcoat zuckte mit
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