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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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Je heftiger er sich bewegte, desto mehr berauschten ihn Nachttreiben, Gerüche, Düfte, das Geklirre von Gläsern. Kondenstropfen perlten auf den glitzrigen Scheiben. Und was er nicht wirklich hören konnte, das sah er doch klingen und schellend, Porzellanglöckchenlaute, gegeneinanderstoßen. Jézabel ihm immer voraus, hier in ein Restaurant geflitzt, dort hinaus, in eine Passage, die nächstbeste Unterführung tauchend, ein paar Stufen wieder hinauf, das Glitzern des Sandsteins, die schnellenden Wasserläufe neben dem Bordstein, das sich gelb verschießende Strahlen aus Reflektoren. Wieder lachte er auf, rief, nein, schrie jetzt ihren Namen. Seitenstiche durchnagelten ihn. Brandung in den Ohren. Dann hatte er sie endlich erwischt, gefaßt, herumgerissen, an sich gezogen, umklammert und ließ sie nicht mehr los. Stumm brüllte er ihr ein Geständnis in die Augen, das tiefer hinabreicht als jeder Satz.

    L ängst fuhr keine Métro mehr, als sie fußmüd die Gare de l’Est erreichten, worumher Nachtstille rauschte, in der der Bahnhof, wie unterm Spiegel eines Sees erhoben, gänzlich vergessen schien mit seinen schummrigen, an den Konturen fast welligen Mauern. Selten schwamm allenfalls ein Taxi vorbei. Die grellen Werbeflächen leuchteten für niemanden mehr. Das Paar nahm sich Zeit, nein, schlenderte nicht, aber setzte bedächtig Schritt vor Schritt. Jézabel schien ihre Energie verströmt zu haben; das tat Ansgar wohl, erfüllte ihn mit Zuversicht. Nun waren sie eins. Jézabel drückte sich an ihn, schmiegte ihren Kopf, der schon schlafen wollte, in seine Schulterbeuge; noch nie hatte er sie müde gesehen. Früher war sie immer gewissermaßen abrupt in Schlaf gestürzt. Daß sie Schwäche zeigte, war neu und gab, dachte er, ihnen beiden eine Chance. Als sie, den Bahnhof rechts, in die Rue Faubourg St. Martin abzweigten, lag die junge Frau an ihm, wie wenn sie sich tragen ließe. Und er trug.
    »Ich bin glücklich, Abèl«, flüsterte sie. »Hilf mir, Abèl, lieb’ mich, Abèl.«
    »Wo müssen wir hin?«
    »Hier entlang. Es ist nicht weit.«
    Sie betraten die Rue de Flandre. Nachtböen trieben ihnen einen zerrissenen Karton entgegen. Die Pappe taumelte müde, schubberte über den Bürgersteig, verfing sich zwischen schwarzen, aufgebeulten Plastiktüten. Ein paar Gestalten, wie Schemen hoben sie sich vom graumelierten Schatten der Hauswände ab, trieben ungewissen Handel.
    Sie passierten eine Hausruine. In die Mauern gestemmte Metall- und Holzstreben wehrten dem Einsturz. Dann die neue Bürgermeisterei, sachlich, voll Trübsinn. Auf dem geleerten Vorplatz blieben sie stehen. Jézabel war gestrauchelt, als wären ihre Knie weggeknickt; Ansgar hielt die Geliebte an der Schulter fest. »Ist dir schlecht? Geht’s dir nicht gut?«
    »Ich fang’ mich schon wieder. Hab’ zuviel getrunken.«
    »Das haben wir beide.«
    Sie hob das Gesicht. Der wilde Glanz in ihren Augen war verglommen, war einer ganz eigenartigen Mattheit gewichen. »Warum hast du mich nicht heiraten wollen?«
    Er küßte sie, auf die Augen, den Mund, das Kinn.
    »So sag schon ... Bitte, sag!«
    »Aber du weißt doch...«
    »Hattest du Angst?«
    »Auch das.«
    »Vor mir?«
    »Um mich.«
    »Und bleibst du jetzt?«
    Er schwieg.
    »Du mußt mich ins Leben lieben, Abèl. Du mußt mich nachher lieben wie niemals zuvor.«
    »Ich bin müde, Advise. Und auch du schläfst schon ein.«
    »Trotzdem, Abèl. Nimm mich. Nimm du mich, meinetwegen hier. Aber tu’s heftig.«
    »Laß uns erst heim. Wo müssen wir hin?«
    »Zu den Orgeln.«
    »Du lebst in der Flamenstadt?«
    »Wenn genug Wind geht, spiele ich auf den Pfeifen.«
    »Das ist doch teuer da! Wie bezahlst du die Wohnung?«
    »Frag nicht. Bring’ mich hin.«
    Sie durchzogen ein Kontinuum aus Regen und Zeit, das ihre langen Schritte segmentierten und bisweilen ein Automotor störte. All dies war zu einsam, um real zu sein. Sie gingen nicht wirklich. Kulissen türmten sich um sie auf. Man wollte sie in der Zuversicht wiegen, sie seien tatsächlich Haut, Fuß und Schädel. Seien Frieren und Gesicht. Seien Physiologie und berührbar. Jézabel merkte es vielleicht zuerst. Ein Schauern durchzuckte sie. Als ich sie ansah, weinte sie.
    »Aber was ist denn? Was ist los?«
    »Du mußt jetzt dasein, Abèl.«
    »Ich bin’s doch ... bin hier.«
    »Bist du ganz sicher?«
    »Aber gewiß ...«
    »Ich brauche dich.«
    »Du hast nie jemanden gebraucht. Das ist jetzt der Alkohol.«
    »Kann sein, Abèl.«
    »Wir müssen schlafen.
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