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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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fragte wie feierlich: »Und du bleibst?«
    »Wie?«
    »Ich hab’ eine schöne Wohnung, du. Eine wirklich schöne Wohnung, groß genug für uns zwei.«
    »Und wovon sollen wir leben?«
    »Du versuchst es halt wieder als Hauslehrer.«
    »Aber Jézabel«
    »Nenn’ mich nicht so! Es gibt die nicht mehr. Nenn’ mich wie früher...«
    »Wir konnten kaum die Miete bezahlen.«
    »Ich verdien’ schließlich auch was...«
    Er lachte leise, schüttelte den Kopf.
    »Wo hast du deine Sachen?« fragte sie. »Im Hotel?«
    Er nickte.
    »Na fein«, sagte sie. »Die hol’n wir nachher gleich ab.«
    »Die schließen um zwölf.«
    »Macht nichts. Hol’n wir sie halt morgen früh. - Laß uns von was anderem sprechen. Wie ist es dir ergangen seit damals?«
    »Ich hab’ wieder zu studieren angefangen.«
    »In Frankfurt?«
    Er nickte.
    »Und?«
    »Na ja, es ist ein bißchen öd. Eigentlich bin ich drüber hinaus.«
    »Das ist gut. Hier ist es nicht öd. Das ist Paris.«
    »Komm, trink deinen Tee, ehe er kalt wird. Du faßt dich ganz erfroren an.«
    Sie lachte. »Du brauchst was andres zum Anziehn, so naß wie du bist.«
    »Geht schon. Ich hätt’ ’nen Schirm mitnehmen sollen.«
    »Aber gut schaust du aus. Bist älter geworden, richtig ein bißchen erwachsen.«
    »Im Frühjahr war ich noch einmal hier, weißt du Ich hab’ dich besuchen, hab’ dich fragen wollen, ob wir nicht...« Er legte seine linke Hand um ihre, die noch immer auf seinem rechten Unterarm ruhte, drückte sie »Tut mir leid wegen damals.«
    »Nebbich«, machte sie. »Bist ja da. Ich freu’ mich ganz wahnsinnig, du.«
    »Wenigstens hättst du schreiben können.« Er wußte er rede Unsinn.
    Sie schaute am Tischbein und ihrem eigenen, dem rechten, hinunter. »Hab’ jedes Blatt in der Schublad noch. - Und du? Auch von dir ist keine Nachricht gekommen, nicht einmal einen Zettel hast du dagelassen als du mich damals ... als du nach Deutschland zurück bist. Wochenlang bin ich morgens zum Briefkaste] runter...«
    Ansgar schwieg. Er fand es schwierig, die Bedrückung wegzuschlucken, mit der sich seine pochende Freude verband. Er sah die Wohnung in der Rue Bellot, die verwohnt nasse Küche, das Bad, worin dem Ungeziefer nicht beizukommen war, hörte das nächtlich hallende Métrorattern, das durch den Boden, durch die Hauswände drang, entsann sich des Knackens und Tappens der fußlangen Ratten, vernahm wieder die Nachbarn streiten, Kindergeschrei, acht Menschen in der Zweizimmerwohnung unter ihnen. Er hatte das nicht länger aushalten können. Jézabel jobbte schwarz, stapelte Kartons im Supermarkt, abends setzte sie sich hinter die Bücher, um ihren Gott zu widerlegen. Sie verdiente knapp 1200 Francs und focht einen zähen, inneren Kampf mit den Eltern, denen sie eines Sabbaths weggelaufen war. Alles, wirklich alles hätte sie getan und tat sie, um dort nicht Hilfe erbetteln zu müssen. Und sie bat schon gar nicht jetzt, in ihrer beider Elend. Denn auch er hatte kaum Geld. Sein dürftiges Stipendium reichte gerade hin, das Kinn über Wasser zu halten. Jézabels wegen nahm er Jobs an, ging nicht mehr in die Seminare, und während sie ihren Geist verbissen stählte, verkam er. Es brauchte Monate, bis er seine Liebe ausreißen konnte. Kennengelernt hatte er Jézabel eines Abends im frühen, noch warmen September, drüben, auf dem Tempelchenfelsen im Buttes-Chaumont. Sie lehnte zwischen den Säulen, ein Buch unterm Arm, schaute klar und bestimmt über die Stadt. Ich grüßte. Ihre riesigen Augen hielten mich fest -, und als hätte sie nicht nur laut gedacht, sondern es gesagt, daß ich es sei, den sie wolle, war sie plötzlich und langsam auf Ansgar zugegangen, hatte ihm einfach und entschieden ihre Arme um die Schultern gelegt, kühl die Hände in seinem Nacken verschränkt und ihn geküßt.
    »Das war mein erster richtiger Kuß, weißt du das überhaupt?« fragte Jézabel, wie wenn sie hätte seine Gedanken mitlesen können. Ihn verwunderte das nicht. Er lächelte nur, so glücklich wie leidend.
    Niemals war er in dieser Weise geküßt worden. Jézabel küßte nicht, nein, saugte sich fest, leckte ihn aus, steckte ihm ihre schmale, schlängelnde Zunge tief in die Seele. »Ich nehme dich hiermit zum Mann«, sagte sie in ihrem Französisch. Er stand steif, geradezu unbeweglich da. Widerstandslos ließ er sich von ihr aus dem Park führen, irgendwann später, benommen, trunken. Alles, aber auch alles in ihm drängte sich ihr zu. Dieser schmale biegsame Leib! Die Spitzen
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