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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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in ihrem Körper eine Seele inkarniert, die nicht in die Welt gehörte, ein in oszillierendem Email unter aller Zerrissenheit in sich ruhendes Bewußtsein nie zerfallender Präsenz. Ihre Kindereien nun befremdeten und peinigten ihn.
    »Nun komm schon, Abèl!«
    »Warte, Advise! Ich bin schon so viel gelaufen seit gestern!«
    »Komm, ach komm!« Sie rannte zu ihm zurück, nahm seinen Kopf in die Hände, fröhlich, zog ihn heftig an die Lippen, säte Küsse in sein Gesicht. »Du bis gekommen!« rief sie. »Und jetzt, nicht wahr, hast du gewollt?«
    Sie hatte recht. Es war ihm damals, irgend etwas selbst zu wollen, überhaupt keine Zeit geblieben. Advise füllte jedes Zimmer, das sie betrat, und jeden Menschen, zu dem sie Kontakt hatte. Wer sich unterhielt mit ihr, den kleidete sie unversehens innerlich aus. Niemand konnte neben ihr bestehen, nicht weil sie hochtrabend, geschweige eingebildet, sondern weil sie so klar war. Ihre Gespräche erlaubten keinen themenfremden Rest. Wenn jemand kniff, wandte sie sich leise lächelnd ab. Wahrscheinlich hatte sie deshalb niemals Freunde gehabt. Waren wir denn befreundet? Sie hatte sich entschieden, und ich trieb mit ihr, in ihr durch die Wochen, für nahezu sechs Monate, ohne eigenen Willen. Jézabel suchte ihm, in den Reichenvierteln um den Boulevard de Grenelle, einen Privatlehrerposten. Fünfmal die Woche gab er drei Stunden. Sie lebten in den Tag; er schüttete sein weniges Geld mit weiten Händen aus. Schnell waren die Ressourcen erschöpft, und die Not wurde faßbar. Für ihn, nicht für Jézabel, die bloß mit den Schultern zuckte. Die Frau saß ihm so sehr unter der Haut, daß er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, verließ sie die Wohnung. Oft schlich er sich zum Supermarkt nur um zu schauen, ob sie noch da, ob sie nicht so jäh verschwunden sei aus seinem Leben, wie sie darin nicht aufgetaucht, nein auf gegangen war. Sah er sie zwischen den Regalen, war er, aber nur für Momente, erleichtert. Ging in die Wohnung zurück, wartete, mußte neuerlich hinab. Jézabel hatte Schichtdienst. Oft kam sie spätabends heim, jedesmal abgrundstill, klaglos, wie betäubt. Ihre innengekehrten Blicke wachten erst mählich, über den Büchern, auf, bekamen Glanz, begannen zu lodern. Manchmal stieß sie beim Lesen kleine Triumphschreie aus. Mitunter stellte ich ihr nachts gegen drei eine Kleinigkeit zum Essen an den Tisch. »Du mußt schlafen, Advise.« Sie lächelte ohne Antwort zu mir auf. »Laß mich sehen, wieviel wir schon haben«, sagte sie, holte die Zigarrenschachtel und zählte das abergezählte Geld, rechnete nach, wieviel sie verdient habe heute, seit gestern, seit zwei Monaten, wieviel ihr verbleiben, wie lange sie noch werde arbeiten müssen, um ein, zwei, um vier Jahre des Studiums bezahlen zu können, das mit Volljährigkeit zu beginnen sie derart ersehnte. Noch suchten sie die Eltern, die Polizei. Jedenfalls nahmen wir das an. Die Wohnung war deshalb unter meinem Namen gemietet. »Das wird noch nicht reichen«, sagte sie jedesmal, wiederum lächelnd, las weiter. Sie brauchte oder gönnte sich unmenschlich wenig Schlaf. Nie besuchten wir ein Kino. »Ich habe Bilder genug«, sagte sie. »Es reicht, dich anzusehen.« Und bis zur Erschöpfung, bis sie unter mir nicht einschlief, sondern ohnmächtig wurde, liebte sie mich, ließ sie sich lieben. - »So geht das nicht weiter«, sagte ich endlich. »Du mußt mit deinen Eltern sprechen.« - »Ich brauche keinen Gott.« - »Wir werden verkommen, glaub’ es mir.« - »Liebst du mich noch?« fragte sie.
    »Advise, nicht so schnell!«
    »Ich will dich heiraten«, sagte sie eines Morgens, kurz bevor sie zur Arbeit ging. »Ich will, daß du mein Mann bist vor dem Gesetz. Man darf uns nicht trennen.« - »Bekommst du ein Kind?« fragte ich. - »Dummerchen! Kinder trage ich im Kopf.« - »Warum dann heiraten? Du bist sowieso noch zu jung.« - Etwas wie Haß brannte in ihren Augen, aber ich spürte, es war Verzweiflung. Ich verstummte und hielt ihrem Blick, wie jedesmal, nicht stand. - »Ich will«, sagte sie, »dem Taten etwas schicken von mir, damit er weiß, er hat einen Sohn.«
    »Laufe, Abèl! Spürst du den Wind?! Wie herrlich es schüttet! Riechst du den Regen? Das ist Leben, Abèl! Ich muß mich wieder fühlen lernen! Ach fange mich! Ach hol’ mich ein!« Jézabel jagte zwischen die Müßiggänger, jauchzte. Endlich fing Ansgar ebenfalls zu laufen an, hastete, hechelte. Er rief Advises Namen, einmal, lachte, zweimal, dreimal.
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