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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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gesündigt wider den Herrn. Und trägt noch die Sünden des ersten.«
    »Wir wollen ihn richten!« rief Junge.
    »Richten! Richten!« schrien Kinder. Klatschten ausgelassen Hände.
    »Der Herr wird richten, nicht wir«, sprach Vater. »Er wird es selber tun. Nicht wahr, Ansgar? Das werden Sie?«
    Ein Irrtum. Er habe nichts zu schaffen, versuchte Ansgar. Ging nicht.
    »Entsinnen Sie sich, wie es war, als sie uns gestern gesehen haben? Haben Sie nicht die Augen niedergeschlagen vor uns? Wir haben Sie nicht gerufen. Der Herr hat Sie geschickt.«
    »Angst«, sagte Junge, »weht nicht grundlos.«
    Kicherte jemand.
    »Gib uns die Tochter zurück«, plötzliche Frauenstimme. Kippte, kirrte. Drängte vor, schwarzgekleidet schweres Tuch Haare geschlungen.
    »So spricht der Herr«, murmelte Greis. »An der Stätte, da Hunde das Blut Naboths geleckt haben, sollen auch Hunde dein Blut lecken.«
    »Was dachten Sie, als Sie uns sahen?« fragte Vater. »Sie wissen es, Ansgar. Geben Sie zu.«
    »Tu Buße!« rief Dritter. »Zerreiße dein Herz!«
    »Buße, Buße!« johlten Kinder.
    »Er hat uns die Tochter ermordet!« rief Mutter.
    Habe nicht schrie zurück.
    »Ich will ihn leiden sehen!«
    »Ruhig, Weib. Das tut er längst.«
    »Laß es mich sehen, Joas! Laßt mich heran!«
    »Zurück, Frau! Versündige dich nicht. Wozu brauchst du das Bild? Setz dich zu Tate Blum.«
    »Ich verfluche dich!« schrie Mutter. »Stürzt ihn herab! »
    Unmittelbar vernahm Ansgar des Bettlers »Stürze!« vor ›Tertre d’Or‹. Umhallte ihn Gischt und schrie sich entsetzt aus dem Alptraum. Doch aus entsetzlicher Ferne noch der Singsang des Alten: »Wer von Ahab stirbt in der Stadt, den sollen die Hunde fressen.«

    E s war sehr früher Morgen. Ein blasses Gelb, wie Schwefel, durchsetzte den rötlichen Schimmer hinter den spirrigen Antennenwäldern. Gleichwohl konnte man den Eindruck gewinnen, es folge dem naßdurchströmten Wochenende ein sonniger, blauklarer Montag. Noch schlummerte Jézabel. Ansgars Schrei schien sie nicht geweckt zu haben. Weiterhin fächelte ihr Atem über seine Brust. Es kitzelte leicht. Vielleicht hatte er auch gar nicht geschrien. Jézabels Arm lag ihm schräg und schwer über dem Bauch. Zart pulste der nach Schlaf und Samen duftende Frauenkörper. Ein paar verklebte Haarsträhnen hafteten an Stirn und Wangen. Leichte, kühle Morgenluft wehte vom Fenster her. Die Knospe der linken Brust, blaß auf der Spitze, die Seiten tiefrot, war härtlich zusammengezogen. Ein feiner Speichelfaden zitterte in Jézabels Atem zwischen rechtem Mundwinkel und einem Kissenzipfel.
    Ansgar war wie gerädert; die Gelenke schmerzten. Noch hing ein Gewicht in ihm, das aufs Wachwerden drückte. Auf keinen Fall durfte er liegenbleiben. Er glitt seitlich und behutsam, um Jézabel nicht zu wecken, unter ihrem Arm aus dem Bett, reckte, schüttelte sich, gähnte, ging zum Fenster. Allmählich wurde er ruhiger, blickte die zwölf Etagen hinab, hinunter auf Platanenwipfel, den noch spärlichen Autoverkehr, in eine Rue de Flandre, die sich die Augen rieb. Drüben am Café schwangen zu langsam die Flügeltüren.
    Es kam ihm so vor, als hätte er Monate verschlafen. Vielleicht hatte er auch zuvor nur geträumt, bis er eben Jézabel traf, damals, im Tempelchen des Buttes-Chaumont. Sie hatte ihn erkannt. Das attackierte seine weichliche Lethargie. Er, keineswegs sie, war nicht reif genug gewesen. Ihn schreckte der Alltag. Deshalb hatte ihn Jézabel, hatten ihre Augen, die er darum mystifizierte, in die Enge getrieben. Er schüttelte den Kopf, lachte bitter. Welche Gewalt tat ich ihr an! Er wandte sich um, betrachtete den noch immer etwas mädchenhaften Körper. Jézabel seufzte hell, drehte sich im Schlaf, zog ein Bein an. Gleich nachher werde ich zu Hause anrufen. Ich werde mich exmatrikulieren. Wir kommen schon irgendwie durch. Es war ein gutes Gefühl, bereit zu sein, ein gewöhnliches Leben zu wollen.
    Ansgar kleidete sich achtsam an. Er wollte, daß Jézabel noch schlief, wollte fürs Frühstück einkaufen gehen und sie wecken mit einem gedeckten Tisch. Wie habe ich, dachte er, sie gedemütigt! Im Grunde war ich nur feig. Hab mich benommen wie einer, den man füttern muß. Er hatte damit, kein Zweifel, auf perfide Weise den religiösen Fanatismus noch aufgeblasen, den sie geflohen war und doch perpetuierte, indem sie so verbissen anzudenken versuchte dagegen. War es ein Wunder, daß sie, derart überfordert, Ansgar an sich klammerte? Das wird jetzt anders
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