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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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schaute immer wieder hinüber. Der Kir schmeckte ganz wunderbar süß. Ständiges Kommen und Gehen. Von Zeit zu Zeit schmetterte eine Musikbox Schlagersequenzen zwischen die Gäste. Das ließ Ansgar unberührt. Er blickte versonnen in den Regen und beobachtete, wie der kleine Stromschnelle Bach zwischen Bordsteinkante und Autoreifen Papierfetzen und Sand mit sich spülte. Der billiggrüne Strohwisch eines Schwarzen kehrte vom Gehsteig Unrat hinein. Durch die Scheibenfugen strich Zugluft. Ansgar fror schon wieder; den Mantel hatte er über die Knie und seinen Schal um den Nacken gelegt.
    Das Hotelzimmer war so einfach, wie er es wollte; fließend Warmwasser, Bett, Stuhl und Tisch. Aus der nach hinten hinaussehenden Luke schaute Ansgar auf mauerumbautes, welkes Grün. Welch stilles Erschrecken abermals. Denn aus dem Stadtplan ersah er, es sei ein israelitischer Friedhof. Jedenfalls war es vor Zeiten einer gewesen. Bevor nämlich Ansgar das Lokal aufsuchte, hatte er einmal das Viertel umschritten - durch den Flandernpaß zum Kai des sich dahinter erstreckenden Wasserbeckens, von dort rechts ab in die nächste kleine Straße zu der von Flandern hin und diese entlang, bis an seinen Ausgangspunkt zurück -, ohne den Eingang zu finden. Es schien also ein aufgelassener Grabplatz zu sein. Eigenartig. Als hätte das Singen wieder eingesetzt.
    Weshalb war er hergefahren? Irgend etwas schien sich zu verbergen vor ihm. Dabei war er sich sicher, niemals hiergewesen zu sein. Was nur lockte ihn so an den Hauskolossen, diesen bizarren Orgelpfeifen?
    Eine Frau trat ein, deren schlanke, hochgewachsene Erscheinung alle Aufmerksamkeit abzog: Es gibt keine höchstrangige Schönheit ohne eine gewisse Fremdartigkeit in ihren Proportionen. Die Schönheit setzte sich, mechanisch graziös, an den Nachbartisch. Ein Duft gefallenen Laubes schwang herüber; verhaltene Warme haftete dem an. Welch eigentümliche Augen! Zu groß eigentlich, dennoch perfekt. Was Ansgar in dem Gesicht entdeckte, war allerdings etwas, das mit der Form, der Farbe, dem Glanz der Einzelzüge keineswegs zusammenhing, sondern es mußte letzten Endes ihrem Ausdruck zugeschrieben werden. Er stutzte. Hatte er nicht schon einmal jemanden mit diesem Zitat zu beschreiben versucht?
    Die Frau, offenbar aufmerksam geworden, sah herüber und, er täuschte sich kaum, begriff sofort. Lächelte sie? Ansgar sah weg, starrte auf billigstes Plastikfurnier. Sie fing einen seiner schnellen Seitenblicke auf, lächelte, ja zwinkerte ihm zu. Es war, wie wenn sie sich von früher kennten. Doch woher? Vermutlich verstand sie nicht deutsch. Man mußte es einmal versuchen. Und wirklich überwand er die Scheu, erhob sich, zögerte noch, dann schritt er ungelenk hinüber.

    E ntschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche.« Er nahm Platz. Sie schien nicht erstaunt zu sein. Eher amüsiert. »Sehen Sie mich nicht so an mit Ihren...«, er gewann an Zuversicht, als er sie weiterlächeln sah, »... Ihren Kuhaugen.« Da sie schwieg, versuchte er sich an fremden Vokabeln. »Wie heißen Sie?« - Sie wartete, in sich ruhend, ab. - »Ich möchte Sie Louise nennen ... ja, Louise. Fragen Sie mich nicht, warum. Einverstanden?«
    Sie nickte tatsächlich.
    »Ansgar und Louise, das klingt hübsch, finden Sie nicht?«
    Sie nickte abermals, indessen im Ausdruck einer, die nicht weiß, worum es geht; verlegenheitshalber, doch ohne Verlegenheit. Eine Serviererin brachte den zuvor bestellten kleinen Schwarzen. Die Frau tat drei Zuckerwürfel hinein, rührte mit dem Löffelstiel, lange, wie sinnend. Ansgar hatte den Eindruck, sie fixiere seine Nasenwurzel, nein: etwas dahinter. Dann steckte sie den Löffelstiel, scheinbar gedankenversunken, zwischen die blaßroten Lippen und lutschte anhaftenden Sirup ab.
    »Es kommt mir vor«, setzte Ansgar fort, lachte indessen geniert, »kommt mir wirklich so vor, als wären wir einander schon einmal begegnet. - Na ja, wann soll das schon gewesen sein?«
    Sie trug ein giftgrünes Kostüm, die Jacke über der Hüfte geschnürt, und unter der Bluse einen roten Rollkrageneinsatz. Die gleichfalls roten, fest die Knöchel umschließenden Stiefeletten nahmen raffiniert den Farbflecken auf.
    »Ich weiß selbst nicht, halt eine Wendung ...«
    Sie sagte etwas, sehr schnell.
    Er versuchte, ihr den Sinn aus den Augen zu nehmen, errötete, stockte, räusperte sich. »Sie wohnen da drüben?« Er wies flüchtig mit dem Kinn hinaus.
    Ein Schimmer des Verstehens huschte über ihre Züge; sie nickte.
    »Ihr
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