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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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ins Geniesel, schlängelte sich durch den Verkehr, stand, sein Atem ging schnell, vor der Tür. Zögerte, spielte mit den Fingern. Wenigstens fehlte der Bettler. Weiß Gott, wo der sich verkrochen hat für die Nacht. Eine Frau, vorgebeugt die Handtasche an den Bauch drückend, kramte vielleicht nach dem Schlüssel. Instinktiv verbarg sich Ansgar im Schatten des Flamenbogens. Er konnte das Gesicht der Frau nicht sehen, auch war sie viel zu klein für Louise; dennoch, als sie endlich auf die Tür zutrat - dort schloß sie nicht etwa auf, sondern machte sich irgendwie seitlich am Rahmen zu schaffen -, dennoch also wiegte sich etwas in ihrem Gang, eine gewisse Art, die Hüften zu schaukeln, was ihn verstörte und gegen allen seinen Verstand hoffen ließ. Schon, die Tür war summend aufgeschnappt, stand die Frau drinnen vorm Aufzug. Rote Lederstiefeletten trug sie allerdings nicht. Wie auch? Steckte nicht eine in seiner Umhängetasche? - Und trotzdem! Trotzdem sprang er vor, an den Eingang heran, klopfte gegen drahtdurchripptes Milchglas. Drinnen schoben sich die Lifttüren auf, und Louise verschwand. Er versuchte, hektisch und wahllos tippend, den Schutzcode zu knacken; links nämlich am Rahmen gab es auf einer kleinen verchromten Silberplatte eine Tabulatur von Zahlen und Ziffern. Endlich ließ er ab. Wasser rann in die Brauen, tropfte auf Wimpern und Lider. Wie er auch lauschte, das Singen war hier nicht zu hören. Selbst der Bettler schien, gleich Louise, Fantasmagorie zu sein. Ansgar trat von der Tür weg, schlurfte rückwärts, drehte sich vorm Flamenbogen um, der die beiden Stirnkomplexe verband, drückte den Kopf in den Nacken. Es hatte etwas Utopisches, was er weniger sah als projizierte, war ein Schauen ins nächste, ins übernächste Jahrhundert. Hoch über einer schmalen Metallstreifenuhr, ein wenig zur Mitte, neigten sich die glatten Betonmauern einander zu, als wollten sie sich, selbstgewiss materiell, im Schwarz des Firmamentes verkoppeln. Ansgar verlor den Halt, glitt zurück, der Kreislauf sackte in die Kniekehlen ab. Er fing sich. Irgendwo dort oben hat sie gewohnt. Er hörte ein Fenster sich öffnen, ein Rauschen von Kleidern, einen Fall, einen Schrei. Kniff erschreckt die Augen zusammen. Farben wirbelten über die Netzhaut.

    W ieder saß er, klitschnaß jetzt, im Café. Er hatte besorgt seine Barschaft geprüft. Louise erschien nicht. Drüben schimmerten Fenster an Fenster, reichte Balkon an Balkon. Die Deckenlampen, die man sah, waren einander fürchterlich ähnlich; nur selten Blumen auf den Simsen. Unten der Supermarkt, daneben ein Lederwarengeschäft, Buchhandlung, Chinarestaurant. ›Le Terte d’Or‹, das ist ›Goldhügel‹. Eine Cafeteria, eine Bank. Autoreihen, Platanen, der Spielplatz, ein tagsüber planenverhülltes Karussell, das sich jetzt, am späten Abend, lichterfunkelnd drehte. Musik von Quetschkommoden. Eine aus sich erleuchtete Litfaßsäule, schwarz-weiß drei Gesichter, zwei Frauen, zwischen ihnen das eines Mannes. Ein Film-, vielleicht Theatertitel. Draußen huschte man durch Ansgars Trance. Selten nur noch betrat jemand das sich allmählich leerende Lokal, kaum je waren es Frauen.
    Arbeiteten Prostituierte nicht meistens nachts? Seltsamer Beruf. Louise hatte überhaupt nicht ärmlich gewirkt, nicht heute früh, sondern schien begütert zu leben. Über die Maßen behütet aufgewachsen vielleicht, dachte Ansgar. Extrem streng erzogen, religiös. Ansgar nickte. Er hatte bereits ziemlich getrunken, legte sich in seine Fantasien wie in ein auf Schienen gleitendes Bett. Als sie vierzehn war wahrscheinlich und gänzlich unvermittelt, war Freiheit in sie eingebrochen. Eines geringen Anlasses hatte es bedurft, einer flüchtigen Verführung, eines Comic-Hefts, mag sein einer Illustriertenreklame. Louise schlich sich aus der Einsiedelstraße, an einem Samstag wie diesem gewiß, als sie, Kranksein vorschürzend, alleingeblieben war. Trat auf Alleen, in Prachtstraßen, öffnete die Augen den Auslagen, dem Luxus. War plötzlich eine Last los. Las verbotene Schriften. Entdeckte die Masturbation. Fortan stahl sie sich nachts oft fort, kroch aus dem Fenster. Die erste Diskothek. Ein erster Flirt. Als die Eltern es merkten, sperrten sie sie ein. Louise schlug und trat gegen die Tür. Die Eltern beteten. Sie schrie. Und nutzte jede Möglichkeit, ihren unbarmherzigen Gott loszuwerden. Der erste Kuß, dann ein reichlich kläglicher Beischlafversuch. Der Kerl war nicht fein, aber weltlich. Er gab
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