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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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wohl leisten können -, da hörte er seinen Namen rufen. Es war ein fast silbriger Laut, zudem fremd -, nicht sein, sondern ein anderer Name. Und wieder. Da stand sie ja auch, Louise, auf der Brücke, und winkte erneut. Auch Ansgar winkte nun; Louise lachte deutlich herüber. »Komm!« rief sie. Also ging er los, erst nur zögernd, weil besorgt, noch einmal lege ihn eine Schimäre herein, dann aber, auf den Brückendielen, trieb ihn das Klacken der eigenen Schritte ins Laufen. Louise war vorausgeschlendert. Plötzlich jedoch sprang sie in den Felsen und verschwand. Ein enger Paß war in ihn geschlagen; man mußte den Kopf einziehen, um sich die Stirn nicht an Gesteinvorsprüngen aufzuschlagen. Schon glaubte Ansgar, Louises schnelles Atmen zu hören, sah auch bisweilen den Absatz einer ihrer Stiefeletten um die nächste Wendelung verschwinden, brauchte nur eine Hand auszustrecken und tat es, faßte den Schuh, zog, stolperte, prallte mit einem jungen Mann zusammen, der, im Motorradanzug, herabgestiegen kam. Er schrie auf. Ansgar rieb sich das wundgeschlagene Knie. Der andere, wieder gefaßt, ging fluchend weiter.
    Benommen, eine Hand auf dem schmerzenden, nässenden Knie, in der anderen die rote Stiefelette, richtete sich Ansgar auf. Das zarte Leder war derart verschmutzt und durchweicht, wie wenn es tagelang draußengelegen hätte. Die Sohle seitlich aufgeplatzt. Ansgar lachte hilflos. Stieg nicht warm aus dem Schaft Louises Laubparfum? War sie jetzt mit nur einem Schuh weitergelaufen, da er den anderen zu fassen bekam?
    Er klomm, das linke Bein nachziehend, die verbliebenen Stufen hinauf, ging ein Treppchen noch, das in den Pavillon führte. In dessen Mitte, wie ein hüfthoher Sitz, war ein runder Betonblock gegossen, den Filzschreibereien bedeckten. Südwestlich stoppte den Blick eine Häuserzeile am Parkrand; zu den anderen Seiten kippte er die Brüstung hinab auf den See oder in Grünanlagen. Keine Spur von Louise. Allerdings wisperte das leise Sirren um die Säulen, eher ein ungefähres Singen als Luftzug, ein Kinderlied, von Nordwesten hergeblasen, dorther nämlich, wo sie sich in konturierter Prägnanz erhoben, die Orgelpfeifen von Flandern. Zweifellos verstrahlten die meterhohen, antennenhaften Blitzableiter auf den Hochhausblöcken die kummervolle Sequenz, die Ansgar nachzusummen versuchte. Er fand aber kaum die ersten Takte. Es war, als gelänge ihm nicht, einen Code zu entziffern, dessen Chiffren indessen er irgendwann kannte. Von der bebauten Hangebene an drängte eine breite Straßenschneise dem fernen Komplex entgegen, was Ansgar eine solche Sehnsucht machte, daß er vor lauter Angst wieder fror.

    B is er in sein Viertel zurückkam, war es dunkel. Ohne Zweifel, dachte er, er war krank. Wenigstens sei er gefährdet. Man mußte sich ablenken. Was er getan hatte, indem er bis ins Stadtzentrum spazierte, links des Flusses Prachtstraßen und Villenquartiere durchzog, vom Marsfeld über den Garibaldiwall, querhin zum Luxemburger Garten. Am Wall des Heiligen Michaels hatte er eine Kleinigkeit gegessen, war weitergeschlendert, und erst, als der Regen wieder eingesetzt hatte, beschlossen, den Tag zu beenden. Intuitiv nahm er die richtige Bahn, verließ ein paar Stationen weiter über Treppen den Schacht. Böen nadelten ihm im Lichtkegel der Straßenlampen schräg flimmernden Nieselregen ins Gesicht. Er stellte den Kragen auf. Je in den Taschen überkreuz, drückten seine Fäuste die Steppolster des Mantels um die Taille. Noch waren die Räume des Supermarkts, Terrain im ersten Orgelkomplex, hell ausgeleuchtet. Ansgar blieb stehen, sinnierte durch Schaufensterscheiben. Es war nicht schwierig, beschriftete Kartonagen, Gänge und Regale für vertraut zu halten. Einkaufswagen sind überall gleich. Trotzdem hätte er schwören mögen, sehr oft hier ein- und ausgegangen zu sein. Er lachte für sich, schüttelte den Kopf. Louise fiel ihm ein, weshalb er die Straße überquerte, das Lokal betrat. Sein Platz von heute morgen war frei. Männer hielten Zeitungen in den Händen, gelbes billiges Papier mit schwarzgelben Listen darauf. Er bestellte einen Cappucino, setzte sich, ließ seine Augen auf den Orgeln drüben wandern, suchte Einschlupf in nicht verschlossene Fenster. Mehrmals rutschte der Blick ab, stürzte aufs Pflaster, blieb vor den Milchglastüren eines Eingangs liegen. Blasses, teigiges Licht schimmerte dahinter. Er kippte den Rest Kaffees hinab, warf ein paar Geldstücke auf den Tisch, sprang hoch, lief hinaus
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