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Die Orgelpfeifen von Flandern

Die Orgelpfeifen von Flandern

Titel: Die Orgelpfeifen von Flandern
Autoren: Alban Nikolai Herbst
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zerfetzte sich an den scharfen, blechenen Kanten der Regenrinnen.
    Ansgar stand auf, beugte sich fröstelnd aus dem Fenster, spitzte in die Nacht. Von unten, vom Hof, quoll ein Geräusch herauf, so windunähnlich wie nichts anderes, ein Klagen von Katzen, die die Geschlechtlichkeit trieb. Ein subversives Tremolo war angestimmt, eine serielle Liturgie, und in ihr tönte, kaum eine Akkordphase, auch dieses Kinderlied mit, als eine Nuance nur der polyphonen, Kümmernis auf Kümmernis schichtenden Klangtraube, Kaddisch aus Schlagern, Folklore, Preßlufthämmern, dem Schleifen der Zugräder, den Weheschreien, dem Platzen einer Bauchdecke, die Verwesungsgas bläht, aus Liebesschwüren und düsterem, pervertiertem Jubel, aufwogend, abwogend, eine kontinuierliche, streng unisone Dodekaphonie. Sie meinte, spürte er, nur ihn, meinte seine Gegenwart, forderte Erbarmen von ihm, als riefen alle die dort unten ihn an. Das war mehr als eine Mahnung, war ein unablässiges, boshaftes Pochen, das den Riegel sprengen wollte, der sein Erinnern versperrte. Was meinte ihn? Weshalb ihn? Er schloß die Läden, legte sich zerschlagen und ängstlich aufs Bett. Der Kopfschmerz pulste auf. Wie fremd war ihm die Stadt, wie fremd jeder Weg, wie fremd waren die Orgelpfeifen! Und doch kannte er sie, kannte sie gut. Und indem er dieses Gefühl zuließ, sich ihm vertraut machte, schob ihn eine elastische Kraft ganz organisch in den Schlaf zurück.

    A bèl?« - Nach einer Weile, leiser noch: »Abèl?« Er blinzelte, konnte aber niemanden sehen.
    »Warum bist du weggegangen, Abèl?«
    »Ist hier jemand?« fragte er.
    »Stell dich nicht an, Dummerchen.«
    »Wer ist da?«
    »Wer wohl, Abèl?«
    Er atmete, wie erleichtert, auf. »Ach du,« sagte er. »Was willst du?«
    »Laß mich schlafen.«
    » Ich war es aber doch, der schlief.«
    »Zu lange, das stimmt. - Warum bist du gekommen? Schon vor einem halben Jahr war es zu spät.«
    Schweigen. - Schließlich: »Warum bist du gekommen?«
    Schweigen. - Dann: »Ich weiß nicht. Ich will etwas verstehen.«
    »Mich?«
    »Ja.«
    »Kannst wieder abreisen dann.«
    »Warum denn?«
    »Weil du mich verstanden hast.«
    »Das ist kein Grund.«
    »Sondern?«
    Schweigen. - Dann: »Ich möchte dich sehen.«
    »Wozu?«
    »Nur noch ein Mal. Bitte.«
    »Wann?«
    »Jetzt gleich. Hier.«
    Lachen. - »Du wirst es für einen Traum halten.«
    »Es ist ein Traum.«
    »Ist es nicht.«
    »Wie kann ich sicher sein?«
    »Gar nicht. Nie.«
    »Dann morgen.«
    »Wann?«
    »Ich weiß nicht. Gleich früh.«
    Lachen. - »Dummerchen! Wie denn?«
    »Wie jetzt.«
    »Das hat keinen Sinn.«
    »Wann sonst?«
    Schweigen. - Endlich: »Wenn du nicht mehr an mich denkst.« Schweigen.
    »Ich möchte dich noch einmal küssen und...«
    »... und?«
    Schweigen. - Darauf: - »... zurückholen.«
    »Hier hin?«
    Er fing zu weinen an.

    A ls er aufwachte, schien es bereits spät zu sein. Er wühlte sich, sein ganzer Körper klebte, aus dem Bett. Eine Schabe haftete in dem groben Frotteetuch über der angerosteten Metalleiste neben dem Waschbecken. So wusch er hastig nur Hände und Gesicht, ohne sich abzutrocknen. Bevor er das Zimmer verließ, streifte sein Blick die Lederstiefelette, die er zum Trocknen auf die Heizkörperrippen gestellt hatte, und steckte sie abermals in die Umhängetasche. Auch die Zeitungsseite - sie lag zerknüllt auf dem Tisch -, tat er hinein. Unten nahm er einen Café und ein Croissant und wollte mit der ›Nation‹ zum Ostfriedhof fahren.
    Es war zwar wieder wärmer geworden, goß indessen streifige Schlieren. Als Ansgar die grauzementenen Métrotreppen hinabstieg, um durch das Gangsystem unter Rue de Flandre und Stalingrad neuerliche Stufen je aufs nächste Tiefplateau, dann indessen hinaufgeführt zu werden, umfing ihn eine dichte Heizungsluft. Er öffnete den Mantel; selbst der Fußboden schien zu dampfen. Ein umkleidetes Stahlgestänge stieg über die Allee. Man konnte den ruhigen Sonntagsverkehr überschauen. Mit Ansgar warteten eine etwa fünfzigjährige Frau und ein in zerschlissenen Pelz gekleideter, bärtiger Mann, von dem sich eigentlich nicht sagen ließ, er warte. Er hatte sich vielmehr eingerichtet unter dem Plexiglasdach.
    Die Bahn zog ratternd ein. Aus den Abteilfenstern übersah Ansgar für Augenblicke die Baustelle um die alte Zollrotunde, das verregnete Bassin und links die Orgeltürme. Noch befuhren die blauen Waggons die Hochstrecke, dann tauchten die Geleise in den Untergrund.
    Die Rolltreppenstufen
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