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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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Abweichungen –, aber er ist auch an einem dieser multidisziplinären Projekte beteiligt, die in letzter Zeit so populär geworden sind. Er arbeitet mit einer Gruppe von Neurophysiologen von der medizinischen Fakultät zusammen; gemeinsam erforschen sie die Auswirkungen von Musik auf das menschliche Gehirn – von verschiedenen Arten von Musik, und von verschiedenen Arten von Geräuschen, denn ein Teil der Sachen, die West sich einfallen läßt, können kaum als Musik bezeichnet werden. Sie wollen wissen, welcher Teil des Gehirns hört, und vor allem, welche Hälfte.
    Sie sind der Meinung, daß diese Information für Patienten mit Schlaganfällen nützlich sein könnte, und für Personen, bei denen Teile des Gehirns bei einem Autounfall zerstört wurden. Sie verdrahten die Gehirne von Leuten und spielen ihnen die Musik oder die Geräusche vor und beobachten die Ergebnisse auf farbigen Computerschirmen.
    West ist Feuer und Flamme für diese Sache. Er sagt, ihm ist inzwischen klargeworden, daß das Gehirn selbst ein Musikinstrument ist, daß man darauf Musik komponieren kann, auf dem Gehirn anderer Menschen; oder könnte, wenn man freie Bahn hätte. Tony findet diese Vorstellung schrecklich – was, wenn die Wissenschaftler etwas spielen wollen, was die Person, der das Gehirn gehört, gar nicht hören will? West sagt, das Ganze ist doch nur theoretisch.
    Aber er hat den dringenden Wunsch, Tony zu verdrahten, wegen ihrer Linkshändigkeit. »Händigkeit« gehört zu den Dingen, die er und die anderen studieren. Sie wollen Elektroden an Tonys Kopf befestigen und sie dann auf dem Klavier spielen lassen, weil das Klavier zweihändig ist und beide Hände gleichzeitig arbeiten, aber an verschiedenen Notierungen. Tony hat dies bis jetzt verhindern können, indem sie sagte, sie könne nicht mehr spielen, was zum größten Teil stimmt; aber abgesehen davon will sie auch nicht, daß West die Sachen, die vielleicht in ihrem Gehirn vor sich gehen, zu sehen bekommt.
    Sie korrigiert den Satz Arbeiten zu Ende und geht zurück ins Schlafzimmer, um sich für das Essen mit Roz und Charis umzuziehen. Sie wirft einen Blick in ihren Schrank: er enthält keine große Auswahl, und egal was sie anzieht, Roz wird schmale Augen machen und einen Einkaufsbummel vorschlagen. Roz findet, daß Tony eine übertriebene Vorliebe für Blümchentapetenmuster hat, obwohl Tony ihr ausführlich erklärt hat, daß das alles nur Tarnung ist. Jedenfalls hat sie in dem schwarzen Lederkostüm, das, wie Roz ihr einmal einzureden versuchte, ihr wahres Selbst verkörperte, ausgesehen wie ein avantgardistischer italienischer Schirmständer.
    Schließlich entscheidet sie sich für ein waldgrünes Kunstseidenkleid mit kleinen weißen Tupfen, das sie in der Kinderabteilung von Eaton’s erstanden hat. Sie kauft ziemlich viele ihrer Sachen dort. Wieso auch nicht? Sie passen ihr, und sie sind billiger, weil Kinderkleider nicht so hoch besteuert werden; und, wie Roz ständig sagt, ist Tony ein Geizkragen, vor allem, wenn es um Kleider geht. Sie zieht es vor, das Geld zu sparen und für Flugtickets zu Schlachtfeldern auszugeben.
    Auf diesen Pilgerfahrten sammelt sie Andenken: eine Blume von jedem Schlachtfeld. Oder vielmehr ein Kraut, denn was sie pflückt, sind ganz gewöhnliche Pflanzen – Gänseblümchen, Klee, Mohnblumen. Sentimentalitäten dieser Art scheinen bei ihr für Menschen reserviert zu sein, die sie nicht kennt. Sie preßt die Blumen zwischen den Seiten der Bibeln, die von Mitglieder suchenden Sekten in den Schubladen der billigen Hotels und Pensionen zurückgelassen werden, in denen sie absteigt. Wenn keine Bibel da ist, nimmt sie einen Aschenbecher. Einen Aschenbecher gibt es immer.
    Wenn sie dann wieder zu Hause ist, klebt sie die Blumen in ihre Alben, in alphabetischer Reihenfolge: Agincourt, Austerlitz, Bunker Hill, Carcassonne, Dünkirchen. Sie ergreift niemals Partei: alle Schlachten sind Schlachten, alle enthalten Tapferkeit, alle haben mit Tod zu tun. Ihren Kollegen erzählt sie nichts von dieser Gewohnheit, weil keiner von ihnen verstehen würde, wieso sie das tut. Sie weiß es selbst nicht genau. Sie weiß selbst nicht genau, was sie da eigentlich sammelt, oder im Gedenken an was.
     
    Im Badezimmer macht sie ihr Gesicht zurecht. Etwas Puder auf die Nase, aber kein Lippenstift. Lippenstift sieht bei ihr immer alarmierend aus, wie etwas Zusätzliches, wie die roten Plastikmünder, die Kinder auf Kartoffeln kleben. Einmal mit dem Kamm durch die
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