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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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eine französische Fischplatte, in der Form eines Fisches.
    Im allgemeinen hat sie nicht viel für Einkäufe übrig, aber sie hat eine Schwäche für Souvenirs. Die Eierbecher hat sie in der Nähe des Schlachtfelds gekauft, auf dem der römische General Marius ein Jahrhundert vor Christi Geburt einhunderttausend Teutonen auslöschte – oder zweihunderttausend, je nach Chronist. Indem er dem Feind ein kleines Truppenkontingent als Köder vor die Nase hielt, lockte er ihn zu der Stelle, die er für das Gemetzel ausgesucht hatte. Nach der Schlacht wurden dreihunderttausend Teutonen in die Sklaverei verkauft, und weitere neunzigtausend wurden möglicherweise in eine Grube auf dem Mont Sainte Victoire geworfen, auf Betreiben einer möglicherweise syrischen Prophetin, die vielleicht Martha hieß, vielleicht aber auch nicht. Man sagte von ihr, sie habe purpurne Gewänder getragen.
    Dieses Bekleidungsdetail wurde ungeachtet der vagen Unbestimmtheit anderer Teile der Geschichte durch die Jahrhunderte hindurch als authentisch weitergereicht. Die Schlacht selbst jedoch fand definitiv statt. Tony hat das Gelände inspiziert: eine flache Ebene, auf drei Seiten von Bergen gesäumt. Kein guter Ort zum Kämpfen, wenn man in der Defensive war. Pourrières lautet der Name des nahe gelegenen Städtchens; es heißt immer noch so, nach dem Gestank der verwesenden Leichen.
    Tony sagt West nichts von dieser Verbindung der Eierbecher (und hat es nie getan). Er wäre entsetzt, nicht so sehr über die verwesenden Teutonen als vielmehr über sie. Einmal hat sie zu ihm gesagt, sie könne die Könige aus alter Zeit verstehen, die sich aus den Schädeln ihrer Feinde Trinkgefäße fertigen ließen. Das war ein Fehler: West sieht sie gerne als gütig und wohlwollend. Und verzeihend natürlich.
    Tony hat Kaffee gemacht, hat die Bohnen selbst gemahlen; sie serviert ihn mit Sahne, allem Cholesterol zum Trotz. Früher oder später, wenn ihre Arterien sich immer mehr mit Schlick zusetzen, werden sie auf die Sahne verzichten müssen, aber jetzt noch nicht. West sitzt da und ißt sein Ei; er ist voll und ganz damit beschäftigt, wie ein glückliches Kind. Die leuchtenden Primärfarben – die roten Tassen, das gelbe Tischtuch, die orangefarbenen Teller – verleihen der Küche die Atmosphäre eines Kinderspielplatzes. Wests graue Haare scheinen ein Irrtum zu sein, eine unerklärliche Veränderung, die über Nacht an ihm vorgenommen wurde. Als sie ihn kennenlernte, war er blond.
    »Gutes Ei«, sagt er. Kleinigkeiten, wie zum Beispiel ein perfektes Ei, können ihn entzücken, Kleinigkeiten, wie zum Beispiel ein nicht perfektes Ei, deprimieren ihn. Es ist leicht, ihm eine Freude zu machen, aber schwer, ihn zu beschützen.
    West, wiederholt Tony für sich. Sie sagt seinen Namen gelegentlich vor sich hin, lautlos, wie eine Zauberformel. Er ist nicht immer West gewesen. Früher – vor dreißig, vor zweiunddreißig Jahren? – hieß er Stewart, bis er einmal sagte, wie sehr er es haßte, Stew genannt zu werden; also drehte sie ihn einfach um, und seitdem ist er immer West gewesen. Sie hat jedoch ein wenig geschummelt, denn genaugenommen hätte er Wets heißen müssen. Aber so ist das nun einmal, wenn man jemanden liebt, denkt Tony. Man schummelt ein wenig.
    »Was steht heute auf deinem Plan?« sagt West.
    »Willst du noch Toast?« sagt Tony. Er nickt, und sie steht auf, um sich um den Toaster zu kümmern, bleibt kurz stehen, um ihn auf den Kopf zu küssen, atmet seinen vertrauten Geruch nach Kopfhaut und Shampoo ein. Seine Haare werden hier oben allmählich dünner: bald wird er eine Tonsur haben, wie ein Mönch. Im Augenblick ist sie größer als er: es kommt nicht oft vor, daß sie ihn aus dieser Vogelperspektive sieht.
    West braucht nicht zu wissen, mit wem sie sich zum Lunch trifft. Er mag Roz und Charis nicht besonders. Sie machen ihn nervös. Er hat das Gefühl – zu Recht –, daß sie zuviel über ihn wissen.
    »Nichts Aufregendes«, sagt sie.

4
    Nach dem Frühstück geht West in sein Zimmer im zweiten Stock, um zu arbeiten, und Tony vertauscht ihren Morgenmantel gegen Jeans und einen Baumwollpullover und korrigiert noch ein paar Arbeiten. Von oben kann sie ein dumpfes Dröhnen hören, untermalt von etwas, was wie ein gemischter Chor aus sich paarenden Hyänen, von Vorschlaghämmern drangsalierten Kühen und schmerzgepeinigten tropischen Vögeln klingt.
    West ist Musikologe. Ein Teil dessen, was er tut, ist traditionell – Einflüsse, Varianten,
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