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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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vorbei; der Müllwagen kommt scheppernd wie ein Panzer die Straße entlang. Tony hört ihn, schlittert in ihren Pantoffeln die Treppe hinunter und in die Küche, hievt den Plastiksack aus seinem Eimer, bindet ihn zu, läuft damit zur Haustür und huscht, ihren Morgenmantel raffend, die Verandatreppe hinunter. Sie muß nur einen kurzen Spurt hinlegen, bis sie den Müllwagen eingeholt hat. Die Männer grinsen sie an: es ist nicht das erste Mal, daß sie sie im Morgenmantel sehen. Eigentlich ist West für den Müll zuständig, aber er vergißt ihn immer.
    Sie geht in die Küche zurück und macht Tee, wärmt die Kanne an, mißt die Blätter sorgfältig ab, kontrolliert auf ihrer Armbanduhr mit den riesigen Ziffern, wie lange er ziehen muß. Es war Tonys Mutter, die ihr beigebracht hat, wie man Tee kocht; es gehört zu den wenigen nützlichen Dingen, die sie von ihr gelernt hat. Tony konnte schon mit neun Jahren Tee kochen. Sie erinnert sich daran, wie sie auf dem Küchenhocker stand, abmaß, einschenkte, die Tasse vorsichtig balancierend nach oben trug, wo ihre Mutter im Bett lag, unter dem Laken, eine rundliche Erhebung, weiß wie eine Schneewehe. Wie schön. Stell ihn hierhin. Und wie sie die Tasse später wiederfand, kalt, immer noch voll.
    Geh weg, Mutter, denkt sie. Rettum, gew heg. Sie verbannt sie, nicht zum ersten Mal.
    West trinkt Tonys Tee immer. Er akzeptiert ihre Gaben immer. Als sie mit seiner Tasse nach oben kommt, steht er am Fenster, das nach hinten geht und sieht in den vernachlässigten, verwilderten Herbstgarten hinaus. (Beide sagen ständig, daß sie sich um den Garten kümmern werden, bald, später. Keiner tut es.) Er ist schon angezogen: Jeans und ein blaues Sweatshirt mit der Aufschrift Schuppen und Schwänze und einer Schildkröte drauf. Irgendeine Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Amphibien und Reptilien zu retten und die – könnte Tony sich denken – nicht besonders viele Mitglieder hat, noch nicht. Es gibt dieser Tage so viele andere Dinge, die gerettet werden müssen.
    »Hier ist dein Tee«, sagt sie.
    West knickt an mehreren Stellen ein wie ein Kamel, das sich hinlegen will, damit er sie küssen kann. Tony stellt sich auf die Zehenspitzen.
    »Das mit dem Müll tut mir leid«, sagt er.
    »Ist schon gut«, sagt sie. »Er war nicht schwer. Ein oder zwei Eier?« Einmal ist sie beim morgendlichen Endspurt um den Müll über ihren Morgenmantel gestolpert und kopfüber die Treppe vor dem Haus hinuntergeflogen. Zum Glück landete sie auf der Mülltüte, die aufplatzte. Sie hat West nichts davon gesagt. Sie ist bei ihm immer vorsichtig. Sie weiß, wie zerbrechlich er ist, wie leicht er zu Bruch gehen kann.

3
    Während sie die Eier kocht, denkt Tony an Zenia. Eine Vorahnung? Keineswegs. Sie denkt oft an Zenia, öfter als zu der Zeit, als Zenia noch lebte. Die tote Zenia ist keine so große Bedrohung mehr und muß nicht ständig beiseite geschoben werden, ganz hinten hin, in die Ecke mit den Spinnweben, in der Tony ihre Schatten aufbewahrt.
    Obwohl allein Zenias Name reicht, um das alte Gefühl von Empörung, Demütigung und konfusem Schmerz wachzurufen. Oder wenigstens ein Echo davon. Tatsache ist, daß es bestimmte Zeiten gibt - früh am Morgen, mitten in der Nacht –, in denen es Tony schwerfällt zu glauben, daß Zenia wirklich tot ist. Gegen ihren Willen, gegen den rationalen Teil in ihr, rechnet sie immer noch damit, daß Zenia wieder auftaucht, durch irgendeine unverschlossene Tür hereinspaziert kommt, durch ein Fenster hereinklettert, das achtlos offengelassen wurde. Es fällt ihr schwer zu glauben, daß sie sich einfach in Luft aufgelöst haben soll, ohne daß etwas von ihr übriggeblieben ist. Es gab einfach zu viel von ihr: all diese bösartige Vitalität muß irgendwo abgeblieben sein.
    Tony steckt zwei Scheiben Brot in den Toaster und kramt im Schrank nach der Orangenmarmelade. Zenia ist tot, natürlich ist sie das. Verloren und für immer fort. Mausetot. Jedesmal, wenn Tony diesen Gedanken denkt, füllt sich ihre Lunge mit Luft, die langsam wieder entweicht, in einem langen Seufzer der Erleichterung.
     
    Zenias Beerdigung war vor fünf Jahren, genauer gesagt vor viereinhalb. Es war März. Tony kann sich noch genau an den Tag erinnern, ein nasser, grauer Tag, der später in Graupelschauer überging. Was sie damals überraschte, war die Tatsache, daß nur so wenige Leute da waren. Die meisten von ihnen Männer, mit hochgeschlagenen Mantelkrägen. Sie scheuten die erste
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