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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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auf. So beginnt eine von Tonys komplexeren Historikvorlesungen, die über die Dynamik spontaner Massaker. Die Metapher handelt vom Weben oder Stricken, und von Handarbeitsscheren. Tony liebt es, sie zu benutzen: sie liebt es, den leise schockierten Ausdruck auf den Gesichtern ihrer Zuhörer zu sehen. Es ist die Mischung aus Häuslichkeit und Massensterben, die diesen Ausdruck bewirkt; eine Mischung, die Zenia zu schätzen gewußt hätte, Zenia, die derartige Turbulenzen, derart gewaltsame Widersprüche genoß. Mehr als genoß: verursachte. Das einzige, was immer noch unklar ist, ist das Warum.
    Tony weiß nicht, wieso sie das Gefühl hat, das unbedingt in Erfahrung bringen zu müssen. Wen interessiert schon das Warum, nach so langer Zeit? Eine Katastrophe ist und bleibt eine Katastrophe; die dabei verletzt wurden, bleiben verletzt, die dabei getötet wurden, bleiben tot, die Trümmer bleiben Trümmer, und alles Reden über Ursachen geht am Wesentlichen vorbei. Zenia war eine üble Geschichte und sollte am besten in Ruhe gelassen werden. Warum versuchen, ihre Motive zu entschlüsseln?
    Aber Zenia ist auch ein Rätsel, ein Knoten: wenn es Tony nur gelänge, das Ende des Fadens zu finden und daran zu ziehen, würde vieles frei werden, für alle Beteiligten, sie selbst eingeschlossen. Hofft sie zumindest. Sie besitzt den Glauben der Historikerin an die heilende Kraft von Erklärungen.
     
    Bleibt das Problem, wo sie anfangen soll, denn nichts beginnt, wenn es beginnt, und nichts ist vorbei, wenn es vorbei ist, und alles braucht eine Einleitung: eine Einleitung, ein Nachwort, eine Tabelle gleichzeitiger Ereignisse. Die Geschichte ist ein Konstrukt, sagt sie zu ihren Studenten. Jeder Einstieg ist möglich, und jede Auswahl ist willkürlich. Dennoch gibt es definitive Augenblicke; Augenblicke, die wir als Bezugspunkte benutzen, weil sie unser Gefühl für Kontinuität sprengen, weil sie die Richtung der Zeit verändern. Wir können uns diese Ereignisse ansehen, und wir können sagen, daß danach nichts mehr so war wie vorher. Sie liefern uns Anfänge, aber auch Enden. Geburten und Tode zum Beispiel, und Heiraten. Und Kriege.
    Es sind die Kriege, die Tony interessieren, trotz ihrer spitzenbesetzten Krägelchen. Sie liebt klare Ergebnisse.
    Das tat Zenia auch, zumindest glaubte Tony das, früher einmal. Jetzt kann sie es nicht mehr so genau sagen.
    Eine willkürlich getroffene Auswahl also, ein definitiver Augenblick: 23. Oktober 1990. Ein heller, sonniger Tag, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Ein Dienstag. Der sowjetische Block bricht auseinander, die alten Landkarten verschwimmen, die Stämme des Ostens haben sich wieder einmal in Bewegung gesetzt, über die sich verändernden Grenzen hinweg. Es gibt Probleme am Golf, der Immobilienmarkt bricht ein, und die Ozonschicht hat ein großes Loch. Die Sonne tritt in den Skorpion, Tony trifft sich mit ihren Freundinnen Roz und Charis zum Lunch im Toxique, ein leichter Wind weht über den Lake Ontario, und Zenia kehrt von den Toten zurück.

 
Das Toxique

Tony 2
    Tony steht um halb sieben auf, so wie immer. West schläft weiter; er stöhnt leise vor sich hin. In seinem Traum schreit er wahrscheinlich; Geräusche in Träumen sind immer lauter. Tony betrachtet sein schlafendes Gesicht, die kantige Wangenpartie, die jetzt ganz weich und entspannt ist, die unirdisch blauen Einsiedleraugen, die so sanft geschlossen sind. Sie ist glücklich, daß er noch lebt: Frauen leben länger als Männer, und Männer haben schwache Herzen, manchmal kippen sie einfach um, und obwohl sie und West nicht alt sind – sie sind überhaupt noch nicht alt –, ist es doch schon vorgekommen, daß Frauen ihres Alters morgens wach wurden und einen toten Mann neben sich hatten. Tony findet nicht, daß das ein morbider Gedanke ist.
    Sie ist auch in einem allgemeineren Sinn glücklich. Sie ist glücklich, daß West auf dieser Erde ist, und in diesem Haus, und daß er sich jeden Abend neben ihr und nicht woanders schlafen legt. Trotz allem, trotz Zenia, ist er immer noch hier. Es kommt ihr wie ein Wunder vor. An manchen Tagen kann sie es einfach nicht fassen.
    Leise, um ihn nicht zu wecken, tastet sie auf dem Nachttisch nach ihrer Brille und rutscht vom Bett herunter. Sie schlüpft in ihren Veloursbademantel und zieht ihre Baumwollsocken an, und darüber ihre grauen Wollsocken, und zwängt ihre eingemummten Füße in ihre Pantoffeln. Sie leidet unter kalten Füßen, ein Zeichen für niedrigen Blutdruck.
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