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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut
Autoren: Margaret Atwood
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Haare. Sie läßt sich die Haare immer in Chinatown schneiden, weil sie dort kein Vermögen dafür verlangen und außerdem wissen, wie man glatte, schwarze, kurze Haare schneiden muß, mit ein paar zerzausten Fransen über der Stirn, immer genau gleich. Gargonne-Schnitt sagte man früher dazu. Zusammen mit ihrer großen Brille mit den großen Augen dahinter und dem zu sehnigen Hals ergibt das Ganze eine Kreuzung aus Straßenjunge und frisch geschlüpftem Vogelküken. Ihre Haut ist immer noch gut, gut genug; sie bildet einen Gegensatz zu den grauen Strähnen. Sie sieht aus wie eine sehr junge alte Frau, oder wie eine sehr alte junge Frau; aber so hat sie schon immer ausgesehen, seit sie zwei war.
    Sie stopft die Arbeiten ihrer Studenten in ihre überdimensionale Tragetasche aus Segeltuch und läuft die Treppe hinauf, um West auf Wiedersehen zu winken. Gegenwind steht auf dem Schild an der Tür seines Arbeitszimmers, und so heißt es auch auf seinem Anrufbeantworter – Zweiter Stock , Gegenwind. So würde er sein High-Tech-Studio nennen, wenn er eins hätte. West hat seine Kopfhörer auf, er ist mit seinem Tonbandgerät und seinem Synthesizer verdrahtet, aber er sieht sie und winkt zurück. Sie verläßt das Haus durch die Vordertür, die sie hinter sich abschließt. Sie achtet immer sorgfältig darauf, sie abzuschließen. Sie will nicht, daß während ihrer Abwesenheit irgendwelche Junkies kommen und West belästigen.
    Die hölzerne Veranda müßte repariert werden, ein Brett ist durchgefault. Sie wird es im Frühjahr machen lassen, gelobt sie sich selbst; es wird mindestens so lange dauern, das zu organisieren. Jemand hat ein Faltblatt unter die Fußmatte gesteckt: schon wieder ein Werkzeug-Sonderangebot. Tony fragt sich, wer all diese Werkzeuge kauft - all diese Kreissägen, kabellosen Bohrmaschinen, Feilen und Schraubenzieher – und was die Leute damit machen. Vielleicht sind Werkzeuge so etwas wie Ersatzwaffen; vielleicht sind sie etwas, womit Männer sich beschäftigen, wenn sie keine Kriege führen. West gehört nicht zum Typ der Werkzeugbenutzer: der einzige Hammer, den es im Haus gibt, gehört Tony, und sobald es sich um etwas handelt, was über das schlichte Einschlagen eines Nagels hinausgeht, zieht sie die Gelben Seiten zu Rate. Wieso sich in Lebensgefahr begeben?
    Eine weitere Werkzeugbroschüre verunstaltet den winzigen Rasen vor dem Haus, der fast nur aus Unkraut besteht und dringend gemäht werden müßte. Der Rasen ist der Schandfleck der ganzen Nachbarschaft. Tony weiß das und schämt sich gelegentlich, und dann schwört sie jedesmal, daß sie das Gras untergraben und durch farbenfrohe, aber unempfindliche Sträucher ersetzen lassen wird, oder durch Kies. Sie hat den Sinn eines Rasens vor dem Haus sowieso nie verstanden. Wenn es nach ihr ginge, würde sie einen Burggraben vorziehen, mit einer Zugbrücke und Krokodilen als Zusatzausstattung.
    Charis gibt immer wieder vage, miauende Töne des Inhalts von sich, daß sie den Rasen vor Tonys Haus umgestalten und in ein wahres Blütenmeer verwandeln könnte, aber Tony hat dies bis jetzt verhindern können. Charis würde einen Garten anlegen, der wie die Vorhänge in Tonys Arbeitszimmer wäre, nämlich das, was sie als »aufbauend« bezeichnet – wuchernde Blüten, verschlungene Ranken, schamlose Samenkapseln es wäre einfach zu viel für Tony. Sie hat schließlich gesehen, was aus dem Streifen Erde neben dem Gartenpfad wurde, der hinter Roz’ Haus vorbeiführt, nachdem Roz ähnlichen Bitten nachgegeben hatte. Da das Ganze Charis’ Werk ist, kann Roz unmöglich etwas daran ändern, und so gibt es jetzt in Roz’ Garten ein kleines Stück, das für immer Charis’ Handschrift tragen wird.
    An der Straßenecke dreht Tony sich um, um zu ihrem Haus zurückzusehen, wie sie es oft tut, voller Bewunderung. Selbst jetzt noch, zwanzig Jahre später, kommt es ihr wie ein Wunder vor, daß sie ein solches Haus besitzt, oder überhaupt ein Haus. Es ist ein Backsteingebäude, spätviktorianisch, schmal und hoch, mit grünen, fischschuppenähnlich angeordneten Schindeln, die das obere Drittel bedecken. Das Fenster ihres Arbeitszimmers befindet sich in dem nachgemachten Türmchen auf der linken Seite: die Viktorianer liebten die Vorstellung, in einem Schloß zu leben. Es ist ein großes Haus, größer als man von der Straße meinen würde. Ein solides Haus, ein beruhigendes Haus; ein Fort, eine Bastion, eine Festung. Drinnen ist West und erzeugt, vor allen Gefahren
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