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Die Rache des schönen Geschlechts

Titel: Die Rache des schönen Geschlechts
Autoren: Andrea Camilleri
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Fische. Strandgut. Montalbano zitterte vor Kälte und ging ins Haus zurück. Er trank drei Tassen Espresso hintereinander, schlüpfte in seine dicke Jacke und setzte sich auf die Veranda. Die Morgenluft war erfrischend. Zum ersten Mal im Leben ärgerte er sich über seine Abneigung, sich Notizen zu machen: Ihm schwirrte etwas durch den Kopf, was Signora Ciccina gesagt hatte, aber er konnte es nicht festhalten. Montalbano wusste, dass es etwas Wichtiges war, aber es kristallisierte sich einfach nicht heraus. Er hatte immer ein eisernes Gedächtnis gehabt, warum ließ es ihn dann jetzt im Stich? Bedeutete das Älterwerden für ihn etwa, dass er ein Notizheft und einen Bleistift mit sich herumtragen musste wie die englischen Polizisten? Diese Horrorvorstellung wirkte sich auf sein Gedächtnis besser aus als jede Medizin, und plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Den Carabinieri hatte Signora Maria Carmela erklärt, Cristina habe sie Mitte November um das Gift gebeten. Bis dato liebt Maria Carmela die Freundin so sehr, dass sie ihr ein harmloses Pulver gibt, um sie vor einer Tollheit zu bewahren. Aber keine zwei Monate später sind ihre Gefühle gegenüber Cristina vollkommen verändert, sie kann sie nicht ausstehen, sie hasst sie. Und entkräftet das Geständnis der Freundin nicht. Demnach musste zwischen den beiden Freundinnen in dieser kurzen Zeitspanne etwas vorgefallen sein. Aber nicht irgendein kleiner Streit, den es auch zwischen engsten Freunden geben kann, nein, es musste eine so schwerwiegende Angelegenheit sein, dass sie eine tiefe, unheilbare Wunde geschlagen hat. Halt.
    Moment mal. Signora Ciccina Adorno hatte auch erzählt, dass die beiden Freundinnen sich an Weihnachten gesehen hatten, zumindest hatte Maria Carmela das dem Leutnant gesagt. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dass diese Begegnung wirklich stattfand. Und es war keine förmliche Begegnung, kein höfliches, aber kühles Austauschen von guten Wünschen, nein, die beiden Frauen redeten in aller Ruhe miteinander, nicht anders als sonst. Das konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder fängt Maria Carmela während oder nach dem weihnachtlichen Treffen an, Cristina zu hassen, oder ihre Wut, ihr Hass beginnt, ein paar Tage nachdem sie Cristina das falsche Gift gegeben hat. Bei dieser zweiten Vermutung spielt Maria Carmela während der Begegnung die alte Freundin, sie verbirgt geschickt, was sie Cristina gegenüber empfindet, und wartet geduldig darauf, dass Cristina früher oder später abdrückt. Ja, denn das falsche Gift ist nichts anderes als ein Revolver mit Platzpatronen. Was auch immer geschieht, der Knall wird Cristinas Leben zerstören. Und wenn Maria Carmela imstande gewesen war, dieses Geheimnis bis an ihr Lebensende zu hüten, kam die zweite Hypothese der Wahrheit sicher am nächsten.
    Ohne Vorwarnung tauchte vor Montalbanos Augen das Bild der Sterbenden auf, das im Kissen versunkene Köpfchen eines gerupften Spatzes, die makellos weiße Bettwäsche, das Nachtkästchen. Das Bild stoppte, und dann nahm das Gedächtnis eine Art Zoom vor. Was war auf dem Nachtkästchen? Eine Flasche Mineralwasser, ein Glas, ein Löffel und, halb hinter der grünen Flasche verborgen, ein etwa zwanzig Zentimeter hohes hölzernes Kruzifix auf einem quadratischen Sockel. Das war's. Und mit einem Mal schälte sich als klares Bild das Kruzifix heraus: Der ans Kreuz genagelte Jesus war kein Weißer. Er war schwarz. Ein sakraler Kunstgegenstand, den Maria
    Carmela sicher in irgendeinem entlegenen Land in Afrika gekauft hatte, als sie ihren Neffen, den Ingenieur, auf seinen Reisen begleitete.
    Plötzlich ließ ein Gedanke ihn aufspringen. War das möglich, dass die Signora von all ihren Reisen nur diese kleine Figur mitgebracht hatte? Wo waren ihre anderen Sachen, all die Gegenstände, Fotos, Briefe, die man aufhebt, damit die Erinnerung sich in ihnen verankert und sie von unserem Leben Zeugnis ablegen können?
    Zurück im Büro, rief der Commissario gleich im Hotel Pirandello an. Er erfuhr, dass Ingegnere Spagnolo gerade zum Flughafen gefahren war, um die erste Maschine nach Mailand zu nehmen. »Hat er viel Gepäck dabei?«
    »Der Ingegnere? Nein, nur einen Handkoffer.«
    »Hat er Sie zufällig beauftragt, ihm ein großes Paket nachzuschicken, einen Karton oder Ähnliches?«
    »Nein, Commissario.«
    Demnach waren die Sachen von Maria Carmela, falls es überhaupt etwas gab, noch in Vigata. »Fazio!«
    »Ja bitte, Dottore?«
    »Hast du heute Vormittag viel zu
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