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Die Rache des schönen Geschlechts

Titel: Die Rache des schönen Geschlechts
Autoren: Andrea Camilleri
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Liebling.«
    »Schon wieder! Dottore, tut mir Leid, aber ich bin Ciccina Adorno.«
    Die Taubheit kehrte augenblicklich zurück, und Montalbano hielt den Hörer auf Sicherheitsabstand. »Was gibt's, Signora?«
    »Ich hab noch was vergessen. Es geht um das erste Gutachten, das von den Professoren Agnello und Trupia aus Palermo.«
    Montalbano horchte auf, das war ein heikler Punkt. »Bitte erzählen Sie, Signora.«
    »Als die Professoren aus Florenz sagten, die Kollegen aus Palermo, die kein Strychnin gefunden hatten, seien entweder inkompetent oder verrückt, ließ Rechtsanwalt Nicolosi Professor Aurelio Giummarra aussagen. Und der hat erzählt, dass Professor Agnello, bei dem er Assistent war, gestorben ist, bevor er das negative Gutachten hatte unterschreiben können. Da hat das Gericht gesagt, dass eben er unterschreiben soll. Professor Giummarra hat es auch unterschrieben, aber er war ein gewissenhafter Mann und hat erst alle Analysen noch mal gemacht. Und wissen Sie was? Er hat versichert, dass er das gleiche Reagenz verwendet hat wie seine Florentiner Kollegen. Und er hat kein Strychnin gefunden.«
    »Danke, Signora. Wissen Sie noch, wie der Vorsitzende Richter im zweiten Prozess hieß?«
    »Klar. Manfredi Catalfamo. Und der Vorsitzende Richter im ersten Prozess hieß Giuseppe Indelicato, und der am Revisionsgericht.«
    »Danke, das reicht schon, Signora. Gute Fahrt.«
    Natürlich waren ihm Catalfamo und Indelicato schnurzegal, er hatte nur gefragt, um noch mal über das Gedächtnis von Ciccina Adorno staunen zu können, die ein wandelnder Supercomputer war.
    Er lag auf dem Bett, im Ohr das Geräusch des leicht bewegten Meeres, und dachte über alles nach, was er erfahren hatte. Wenn stimmte, was Maria Carmela Spagnolo ihm in ihrer Todesstunde anvertraut hatte, dann hatten die Gutachter aus Palermo einfach deshalb kein Strychnin gefunden, weil keines vorhanden war. Cristina hatte geglaubt, ihren Mann zu vergiften, ihm in Wirklichkeit jedoch ein harmloses Pülverchen verabreicht. Wieso hatten dann die Gutachter aus Florenz Gift gefunden? Vielleicht hatte Notar Cuffaro ja doch Recht, und das Material war so lange auf rätselhafte Weise verschwunden, damit seine politischen Gegner Zeit hatten, es mit einer ganzen Tonne Strychnin zu versetzen. Einen Skandal gab das nicht her: In Italien sind die Prozesse gespickt mit Proben und Gegenproben, die verschwinden und zu gegebener Zeit wieder auftauchen, das ist eine liebe alte Gewohnheit, fast ein Ritual.
    Im Grunde war Cristina nicht verurteilt worden, weil sie ihren Mann tatsächlich vergiftet hatte, sondern weil sie es plante. Hätte sie überhaupt auf die Idee kommen können, dass ihre liebe Freundin Maria Carmela sie belog? Und warum hatte Maria Carmela das getan? Wahrscheinlich weil sie über die leidenschaftliche Liebe zu dem jungen Neffen Attilio im Bilde war und auch wusste, dass Cristina in letzter Zeit die Absicht geäußert hatte, ihren Mann zu töten. Es ist natürlich zweierlei, ob jemand den Mund aufmacht, um Dampf abzulassen, oder ob er ernsthaft etwas sagt. Wie auch immer, damit Cristina nicht früher oder später Riesenmist baut, gibt Maria Carmela ihr ein bisschen Pulver und sagt, es sei Mäusegift. Bis dahin ist alles klar, Maria Carmela handelt zum Wohl der Freundin. Aber warum verschweigt sie dann die Wahrheit, erst vor dem Leutnant der Carabinieri und später vor Gericht? Sie hätte damals bei den Carabinieri zu Cristinas Entlastung nur zu sagen brauchen:
    »Cristina kann ihren Mann mit dem Pulver, das sie von mir hatte, gar nicht getötet haben, es war nämlich kein Gift.«
    Das hätte völlig ausgereicht. Aber sie sagt es nicht. Ganz im Gegenteil, sie macht eine Szene, weint verzweifelt und versichert, sie habe nichts von Cristinas Mordabsichten gewusst. Um das Maß voll zu machen, schlägt sie beim Prozess noch weitere Nägel in den Sarg der Freundin. Erst fünfzig Jahre später redet sie, um angesichts des Todes ihr Gewissen zu erleichtern.
    Warum? Maria Carmela schweigt und weiß, dass jemand verurteilt wird, der unschuldig ist, wenn auch nur relativ unschuldig. Dieses Verhalten deutet auf tiefen Hass hin, anders kann man das nicht nennen: Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen eiskalten blanken Racheakt.
    Mittlerweile war es heller Tag. Montalbano sprang aus dem Bett, setzte die Espressokanne auf und trat auf die Veranda hinaus. Der Wind hatte sich gelegt, der Strand war nass und dreckig, Plastikflaschen, Algen, leere Dosen, tote
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