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Die Rache des Samurai

Die Rache des Samurai

Titel: Die Rache des Samurai
Autoren: Laura Joh Rowland
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Pagodendach; im hohlen Sockelfuß der Säule war die Urne mit der Asche seines Vaters untergebracht. Erinnerungen an die regelmäßigen Besuche Sanos und seiner Mutter standen um die Säule herum: Blumen; Holztäfelchen, in die Gebete eingeritzt waren; ein Gefäß mit Reiswein und eine Schüssel mit getrockneten Früchten, um dem Geist des Verstorbenen Nahrung zu spenden. Doch selbst hier konnte Sano die Präsenz seines Vaters nicht spüren. In seiner Verzweiflung sagte er laut:
    » Chichiue . Ich habe getan, was du mir aufgetragen hast.« Sanos Stimme bebte, als er gegen die Tränen kämpfte, doch es kümmerte ihn nicht; hier war niemand, der ihn hören konnte. »Genügt es nicht zum Glücklichsein, daß ich meine Pflicht erfüllt habe?«
    Schritte knirschten auf dem Kiesweg hinter ihm. Erschreckt zuckte Sano zusammen; dann blickte er über die Schulter und sah einen fremden Samurai.
    »Wer seid Ihr?« stieß er hervor, erhob sich und drehte sich um. »Was wollt Ihr?«
    Der Samurai betrachtete Sano mit einem traurigen Lächeln. »Erkennst du mich nicht, Ichirō?«
    Der Schock fuhr Sano bis ins Innerste seiner Seele, als er den Mann erkannte. Die Stimme war jung und fest, nicht alt und schwach; der kräftige Körper war noch nicht von Krankheit und Alter gezeichnet; der stolze Geist war noch nicht unter dem Gewicht der Schande und der Erschwernisse zerbrochen, als rōnin leben zu müssen. Und das Gesicht war dem Sanos verblüffend ähnlich. Dieser Fremde war sein Vater – nicht alt, krank und gebrechlich, wie Sano ihn zum letztenmal gesehen hatte, sondern jung und stark. Ein Mann, der das Leben noch vor sich hatte.
    » Chichiue !« Sano kniete nieder und senkte ehrfürchtig den Kopf. »Wie oft habe ich gebetet, daß Ihr zu mir kommt. Doch bis jetzt habt Ihr es nie getan. Warum?«
    Die warme, feste Hand des Geistes legte sich auf Sanos Schulter und zog ihn sanft auf die Beine. Von gleicher Größe, standen beide sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In den Augen des Vaters sah Sano die nachsichtige Geduld, an die er sich so gut erinnern konnte.
    »Ich habe dich nie verlassen, mein Sohn«, sagte der Geist. »Habe ich nicht durch das, was ich dich lehrte, zu dir gesprochen? Bin ich in deinen Gedanken nicht gegenwärtig? Lebe ich denn nicht in dir weiter, meinem Fleisch und Blut?«
    Sano, der die Wahrheit in diesen Worten erkannte, hatte keine Antwort. Doch als sie gemeinsam über den Friedhof schlenderten, suchte er erneut den weisen Ratschlag seines Vaters. Sano erzählte dem Geist von seiner erfolgreichen Suche nach dem Mörder und dem Verlust Aois, der ihm die Freude über seine Leistung geraubt und ihm allen Lebensmut genommen hatte.
    »Was soll ich tun, Vater? Wie soll ich damit leben?«
    »Ein Kampf, wie du ihn jetzt austrägst, bleibt keinem Samurai erspart, Ichirō.« Die sanften Augen des Geistes blickten nachdenklich in die Ferne. »Es ist der Kampf, das Recht und das Unrecht zu begreifen, das Gute und das Böse. Zu tun, was richtig und gut ist. Zu unterlassen, was falsch und schlecht ist.«
    Sano wußte aus Erfahrung, daß irgendwo in dieser Bemerkung eine versteckte Botschaft an ihn lag. »Und woher weiß ein Samurai, was richtig ist?« fragte er zögernd, denn der Geist, der so alt wie er selbst erschien, hatte ihn wieder in die Rolle eines unwissenden jungen Schülers gedrängt.
    Der vorwurfsvolle Blick des Geistes ließ Sano erkennen, daß er das Wesentliche übersehen hatte, wie so oft in den Lehrstunden seiner Kindheit. »Du solltest lieber fragen, wie ein Samurai dafür sorgen kann, daß er den rechten Weg beschreitet, statt einen Pfad zu gehen, der in die Irre führt.«
    Sano schwieg, ernüchtert, aber erwartungsvoll.
    »Mitunter wird ein Samurai erst durch das Gefühl der Scham, falsch zu handeln, dazu angetrieben, das Richtige zu tun. Doch wenn er oft genug richtig handelt, geht es ihm in Fleisch und Blut über. Im rechten Handeln und dem Wissen, den schwierigsten Teil des bushidō gemeistert zu haben, wird der Samurai Befriedigung finden – die Befriedigung, seiner Bestimmung nachgekommen zu sein.«
    Sie hatten das Friedhofstor erreicht, und der Geist blieb stehen. »Hier müssen wir uns trennen, mein Sohn. Doch ich werde stets bei dir sein.«
    » Chichiue !« Sano packte den Arm des Vaters. »Geht nicht!«
    Doch seine Hand griff ins Leere. Der Geist war verschwunden.
    » Sōsakan-sama? «
    Sano drehte sich um und sah Hirata im offenen Tor stehen. » Gomen nasai . Verzeiht, daß ich Euch
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