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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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hatte Mühe, die Augen offen zu halten.
    »Lasst sie ausruhen«, sagte Plomion und stand auf. »Eure Mutter hat fünfzehn Jahre entsetzlicher Leiden hinter sich. Ihre Seele und ihr Körper müssen erst wieder vollständig zusammenfinden. Wenn sie sich erholt hat, haben wir genug Zeit, alles zu besprechen.« Er wedelte mit den Händen, als scheuchte er Hühner vor sich her.
    »Fédéric, dich ernenne ich zum Leibdiener: Du sorgst dafür, dass Rhea alles bekommt, was sie benötigt und hältst fürs Erste jegliche Aufregung von ihr fern.«
    Ruben stand auf, obwohl es ihm schwerfiel, sich schon wieder von Rhea zu trennen. Wie oft hatte er sich gewünscht, eine Mutter zu haben, und jetzt war es endlich wahr geworden. Innerlich leistete er Abbitte dafür, dass er so leicht Elisabeth d’Ardevon verfallen war. Sie hatte nicht nur ihre Gabe eingesetzt, sondern seine Sehnsucht erkannt und ausgenutzt – nur war er zu verblendet gewesen, um das zu erkennen. Es würde dauern, bis er sich deswegen nicht mehr schämte.
    »Geh nur.« Rhea lächelte matt. »Ihr habt viel zu tun.«
    Ruben ging hinaus. Bei jedem Schritt spürte er das ungewohnte Gewicht der Flügel an seinem Rücken, deren Federn bis zu seinen Kniekehlen reichten. Er fragte sich, wie er je wieder ein Hemd tragen sollte, allerdings war das wahrscheinlich sein geringstes Problem.
    Ich bin Andipalos , dachte er und wiederholte den Satz im Geist mehrere Male, um ihn zu begreifen. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Von nun an würde er die Entscheidungen treffen.
    Julie betrachtete Rubens dunkle Schwingen, die sich bei jedem seiner Schritte leicht bewegten. Ihr Bruder hielt sich aufrechter und in seinem Gang lag ein neues Selbstvertrauen. Er stolzierte geradezu, wie sie fand. Lächerlich , dachte sie. Er sieht aus wie ein großes Huhn .
    Im Korridor hinter dem Saal drehte Ruben sich zu ihr um. »Weißt du was? Ich bin so hungrig wie noch nie in meinem Leben.«
    Es war unglaublich, doch selbst nach all dem, was geschehen war, verspürte nun auch sie auf einmal einen rasenden Hunger. Sie gingen in die Küche, wo sie Brot und kaltes Fleisch fanden, und setzten sich zum Essen an den Tisch, an dem Julie Rhea vorgefunden hatte. Ruben kämpfte ein wenig mit seinen Flügeln, bis er bequem sitzen konnte.
    »Ob ich mich je daran gewöhne?« Er schnitt zwei dicke Scheiben Brot ab und reichte eine davon Julie.
    »Du hast ja genug Zeit dazu«, antwortete sie kauend.
    »Verrückt, dass ausgerechnet ich die Flügel bekommen habe.« Ruben hatte sich ein so großes Stück Brot in den Mund gestopft, dass er nur undeutlich zu verstehen war.
    »Das finde ich auch.« Julie beugte sich über ihren Teller. Sie war froh, dass Ruben lebte, aber womit hatte er sich diese herrlichen Flügel und die Stellung, die sie mit sich brachten, eigentlich verdient?
    »Was soll das heißen?« Ruben schluckte und hörte auf zu essen.
    »Dass vor dir eine enorm schwierige Aufgabe liegt, und ich mich frage, ob du ihr auch gewachsen bist.« Sie aß ungerührt weiter und sah Ruben immer noch nicht an.
    »Du traust mir rein gar nichts zu, stimmt’s?«, fragte Ruben ärgerlich.
    »Du hast dich bisher ja nicht gerade durch Umsicht und Weitblick ausgezeichnet, um es zurückhaltend auszudrücken.«
    Die Stuhlbeine scharrten über den Steinboden, als Ruben aufsprang.
    Julie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Sie presste die Lippen aufeinander und funkelte ihn an. Rubens Schwingen waren halb gespreizt und fächelten vor und zurück. Er sah bedroh lich und großartig aus, und selbst Julie musste zugeben, dass er sich äußerlich als Anführer gut machen würde. Aber was war mit dem Weitblick, mit der Entschiedenheit, die ein Anführer benötigte?
    »Du glaubst, ich hab die Flügel nicht verdient, oder? Weil ich in deinen Augen nur ein dummer, kleiner Junge bin!«
    »Zumindest benimmst du dich wie einer.«
    »Du bist doch nur neidisch!«
    »Auf die Flügel etwa? Fehlt nur noch der Pfauenschweif!« Julie wusste, dass sie gemein und ungerecht war, aber es tat dennoch gut. Weshalb war auf einmal Ruben der strahlende Held, während ihr niemand dafür gedankt hatte, dass sie Mont St. Michel überhaupt erreicht hatten?
    Rubens Gesicht wurde blass. »Und wer hat dir vorhin das Leben gerettet? Ohne mich hätte Cal dich getötet. Ich hätte ihn lassen sollen!« Mit diesen Worten stürmte er hinaus.
    Es schmälerte seinen Abgang ein wenig, dass er in der Tür hängen blieb, weil er vergessen hatte, die Flügel
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