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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition)
Autoren: H. J. Anderegg
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gesehen.«
    »Klar, aber jeder weiß, dass Ben gern einen über den Durst trinkt, so wie der Blaue Huw hier.« Charlie kannte den ausgemergelten, arbeitslosen Bergmann, den alle nur den Blauen Huw nannten. Er war nicht sicher, ob er den Namen seiner ewig blauen Montur zu verdanken hatte oder der Tatsache, dass er im Wachzustand praktisch immer blau war. Huw war auf dem Weg zur Tankstelle, zur ›Goldmine‹ in der Broad Street. Von seinem Vater hatte er gehört, dass Huw stets volltankte, aber nicht wusste, wann es soweit war. Umso besser wusste es der Wirt, der das Ritual jeweils mit der Bemerkung: »Voll«, abschloss. Huw konnte anschließend noch so lange vor dem leeren Glas am Rand des Tresens kauern und jammern, das Glas blieb leer, die Ale-Quelle war versiegt.
    »Du meinst, wir behaupten einfach, die Geschichte sei erfunden?« Er glaubte nicht an diese Lösung, aber ein wenig Hoffnung schöpfte er dennoch, war es doch schon schlimm genug, dass er eine geschlagene Stunde zu spät nach Hause kam.
    »Vielleicht sollten wir dem alten Ben was spenden«, grinste Ryan.
    »Bestechung?« Das war typisch für seinen Freund. Er hatte stets rasch eine Patentlösung zur Hand, die sich allerdings oft als Rohrkrepierer herausstellte. Er half ihm auf die Beine und sagte: »Ich glaube, wir sollten jetzt besser gehen.«
    »Zum Glück ist Michael im Klassenlager. Mein feiner großer Bruder, der Streber, würde sich wieder totlachen, wenn ich Schwierigkeiten bekomme«, brummte Ryan missmutig. Durch eine verwinkelte Seitengasse, ihren üblichen Schleichweg, um unangenehme Begegnungen zu vermeiden, näherten sie sich dem Haus der Hogans.
    »Mist!«, schimpfte Ryan leise, als sich die Hintertür nicht öffnen ließ. Vorne rein, ins offene Messer laufen, das hatte ihm noch gefehlt. Vorsichtig wie lichtscheue Diebe spähten sie um die Ecke, bevor sie sich zum Vordereingang wagten. Zum Glück war niemand zu sehen, auch keine der neugierigen Nachbarinnen in den anderen Reihenhäuschen. Wortlos machte Ryan das Handzeichen, mit dem sich die zwei Freunde grüssten und verabschiedeten. Im gleichen Augenblick, als er das rostige Gartentürchen öffnen wollte, flog die Haustür auf. Eine schmächtige Frau mit Kopftuch und Schürze huschte über die zwei Treppenstufen in den Garten, rannte auf sie zu, schoss kreidebleich und wortlos an ihnen vorbei auf die Strasse.
    »Ma?«
    »Mrs. Hogan?«
    Bestürzt und ratlos blickten die beiden Knaben Ryans Mutter nach, bis sie in einer Nebenstrasse verschwand. Das sah nicht gut aus. Mrs. Hogan war an ihnen vorbei gestürmt, als hätte sie ihren eigenen Sohn nicht erkannt. Nein, das sah gar nicht gut aus. Sonst grüsste sie immer freundlich und nahm sich jedes Mal Zeit für ein kleines Schwätzchen. Charlies Magen fühlte sich plötzlich hart wie Granit an, und er hatte Angst. Die Haustür stand offen. Im fahlen Lichtschein, der aus dem Wohnzimmer in den Korridor drang, bewegte sich nichts. Beklemmende Stille breitete sich über das Haus. Sein Freund starrte noch immer mit offenem Mund zur Straßenecke, wo seine Mutter verschwunden war. Er fasste sich ein Herz, packte Ryan an den Schultern und sagte mit erstaunlich fester Stimme: »Ich komme mit hinein.« Welch düsteres Geheimnis auch immer im Haus auf sie wartete, zu zweit waren sie unbesiegbar. Zur Sicherheit packte er die Axt, die zufällig am Haus lehnte und drückte seinem sprachlosen Freund die Stechschaufel in die Hand, die daneben im Gemüsebeet steckte. Als er die Tür ganz aufstieß, fand Ryan die Sprache endlich wieder.
    »Dad! Was ist los? Ma ist weg«, rief er und stürzte in die Stube. Sein Vater lag auf dem Sofa, die Zeitung auf dem stattlichen Bauch, wie meistens um diese Zeit. Er rührte sich nicht. »Dad! Was ist mit Ma?« Keine Antwort. Er musste tief schlafen, auch das nichts Ungewöhnliches. Seltsam war nur, dass er nicht schnarchte wie ein ausgeleierter Traktor mit Fehlzündungen. Kein Ton war zu hören. Ryan ging zum Sofa, wollte ihn wachrütteln, als er vor Schreck einen Satz rückwarts machte, ans Fenstersims krachte und zusammengekrümmt zu Boden ging. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute er hilfesuchend zu seinem Freund auf und zeigte wortlos aufs Sofa. Charlie erschrak nicht weniger, aber er war gewarnt und hatte sich besser unter Kontrolle. Ryans Vater schlief nicht, oder besser, er schlief so fest, dass er nie mehr aufwachen würde. Er war tot, das war ihm sofort klar, als er den reglosen Körper vor sich liegen sah mit den
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