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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition)
Autoren: H. J. Anderegg
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KAPITEL 1
     
Blaenavon, Wales
    E twas stimmte nicht in der Grube. Charlie blieb verwundert stehen, blickte sich vorsichtig um in der halb leeren, offenen Lagerhalle. Es war still wie in Reverend Landers Kirche nach der Chorprobe. Der hinkende Eriyn hatte seinen schmutziggelben Gabelstapler wie üblich beim Eingang am Fuß der Backsteintürme geparkt, die haushoch bis zu den Dachziegeln aufragten. Er glaubte noch den Gestank der öligen Rußwolke zu riechen, die das Vehikel bei jedem Start des Motors ausstieß. Aber das bildete er sich nur ein, denn Eriyn hatte längst Feierabend und saß im Pub wie alle anderen Arbeiter der Ziegelhütte um diese Zeit am Freitagabend. Charlie hätte eigentlich auch schon zu Hause sein müssen, doch die Versuchung war einfach zu groß, sich noch etwas länger mit seinem Freund auf dem verbotenen Fabrikgelände auszutoben, jetzt, wo sie allein über die riesigen offenen Hallen mit den geheimnisvollen Maschinen herrschten, über die noch immer nicht vollständig erforschte Welt der Lehmgrube, das laute Volk in den Froschtümpeln und vor allem über die handlichen Wagen der Transportbahn, auf denen man wie ein König durch die Gegend rollte, wenn man nur genügend Muskeln hatte.
    In der Halle konnte sich Ryan nicht versteckt halten, ohne sich durch ein Geräusch zu verraten. Charlie trat ins Freie. Grillen zirpten rhythmisch und aufdringlich wie an jedem schönen Sommerabend. Ein paar Vögel stritten sich aufgeregt um die besten Schlafplätze. Die Förderbänder standen still. Alles hatte seine gewohnte Ordnung, und doch: etwas war anders als sonst, wenn sie hier spielten.
    Das Brummen! Es hörte sich an wie fernes Donnergrollen, und der Boden unter seinen Füssen zitterte leise. Das unheimliche Geräusch hielt hartnäckig an, als wollte ihn die Anlage fortjagen. Der Herrscher der Lehmgrube bekam Gänsehaut, er hatte Angst, wollte davonrennen. Aber irgendwo da draußen war noch Ryan. Warum zeigte er sich nicht? Er musste das Brummen doch auch hören. Plötzlich wusste Charlie, was es bedeutete: die Mühle! Man hatte die Gesteinsmühle eingeschaltet, sie waren nicht allein. Eriyn hatte es ihnen einmal im Betrieb gezeigt, voller Stolz, als hätte er das gigantische Mahlwerk selbst geschaffen, das alles gnadenlos verschlang und zermalmte was in seinen Rachen fiel. Ein trichterförmiger Rachen, in dem das Häuschen seiner Eltern, zusammen mit dem Haus seines Freundes, mühelos Platz gefunden hätte. Offenbar legten sie heute eine Sonderschicht ein.
    »Ryan!«, brüllte er aus Leibeskräften und rannte zum Rand der Lehmgrube, wo die Hütte der Mühle stand. »Wo bist du? Wir müssen verschwinden!« Keine Antwort, nur das unheimliche Brummen wurde lauter. Je näher er dem Trichter kam, desto deutlicher hörte er auch das Rumpeln und Knirschen der stählernen Zähne des Ungeheuers. »Ryan, verdammt noch mal! Das ist nicht lustig. Willst du, dass sie uns erwischen?« Keine Spur seines Freundes. Hatte Ryan die Anlage eingeschaltet? Zuzutrauen wäre es dem Draufgänger, der kaum einen Blödsinn ausließ, wenn man nicht aufpasste. Er spähte vorsichtig über den Rand des Trichters. »Ryan, bist du da unten?« Er wagte sich nicht weit vor, nur soweit, bis er die steil nach unten fließende Geröllhalde sah. Wer hier hineinfiel, war verloren. Plötzlich stockte ihm der Atem. Eine Stimme, ein Schrei. Er konnte nicht feststellen, woher er kam, aber es war der Schrei eines Menschen, und er klang ganz nach Ryan. »Ryan, wo bist du?« Verzweifelt reckte er den Hals, um weiter hinunter zu sehen.
    »Hilfe. Charlie, hier unten!« Charlie sah ihn nicht. Er sprang auf, hastete am Rand des Kraters entlang, bis er die andere Hälfte des Abhangs überblicken konnte. Da sah er seinen Freund, schon weit unten. Er strampelte und ruderte mit allen Vieren gegen den unerbittlichen Strom von Gesteinsbrocken, wie ein Ertrinkender, der von den Gezeiten ins offene Meer gerissen wird. Seine Kräfte schienen rasch nachzulassen. Charlie begriff sofort, dass die Maschine seinen Freund in wenigen Minuten zermalmen würde, wenn er nicht sofort helfen konnte. Auch er schrie jetzt lauthals um Hilfe, rannte wieder um den Krater herum, bis er Ryan am nächsten war und hielt zitternd vor Angst und mit Tränen in den Augen nach einer Leiter oder langen Stange Ausschau. Er wäre sofort in den Trichter gesprungen, wenn er eine Möglichkeit gesehen hätte, seinem Freund zu helfen, aber das wäre der sichere Tod beider gewesen.
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