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Die Prinzen von Queens - Roman

Die Prinzen von Queens - Roman

Titel: Die Prinzen von Queens - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Stunden zuvor, rüttelt an den Türen des Schranks unter der Spüle. Will wissen, wo die Schere ist, damit er das Klebeband zwischen den Griffen zerschneiden kann, und leider muss Isabel ihm sagen, dass die gute Schere, hm, tja, im Schrank unter der Spüle ist.
    »Und wo ist die schlechte Schere?«, sagt Alfredo. »Oder will ich das erst gar nicht wissen?«
    »Nimm doch ein Messer«, sagt sie.
    »Sind die Messer deswegen alle so stumpf?«
    »Die Messer sind nicht stumpf«, sagt sie. »Was willst du denn da überhaupt?«
    Eine direkte Frage. Wie unklug von ihr. Sie setzt sich auf den Futon und schaut Alfredo zu, wie er das Gewebeband mit Hilfe seines riesigen Schlüsselbundes zersäbelt. Er hat ihr den Rücken zugedreht, die Schultern fast bis zu den Ohren hochgezogen, und auch wenn Isabel sein Gesicht nicht sehen kann, ist sie sich doch ziemlich sicher, dass ihm die Zunge zwischen den Zähnen klemmt. Mit einem Ruck öffnet er die Türen. Er räumt den kompletten Kerzenvorrat heraus – all die Stumpen, Schwimmkerzen, Votivkerzen und Teelichter – und stopft ihn in eine blaue Plastiktüte.
    »Was zum Teufel …?«, sagt sie.
    »Pass auf, was du sagst!«, sagt er, hocherfreut, so einfach gepunktet zu haben.
    »Das sind meine«, sagt sie.
    »Keine Sorge«, sagt er, ohne sich umzudrehen. »Ich lass dir ein paar hier.«
    »Das sind meine Kerzen.«
    »Sei nicht so egoistisch, okay? Die sind für meine Eltern. Erinnerst du dich an sie? Die Leute, bei denen du ein Jahr lang gewohnt hast?«
    »Ist nicht dein Ernst?«, sagt sie. »Du gehst?«
    »Meine Eltern sind alt, Izzy. Der Strom ist weg. Ich geh zu ihnen rüber und guck, ob alles in Ordnung ist.« Er füllt eine zweite Tüte mit Isabels Kerzen. »Ist doch nichts Schlimmes.«
    Sie hebt Christian Louis vom Boden und setzt ihn sich auf den Schoß. »Wir kommen mit.«
    »Das geht nicht, ich lauf doch viel zu schnell.« Er schnippt mit den Fingern. »Ich renne schnell rüber.«
    »Aber es wird gleich dunkel.«
    »Eben drum«, sagt er. »Genau deswegen.«
    »Aber«, sagt sie, und Christian Louis patscht ihr auf den Mund, als wollte er sie zum Schweigen bringen, sie davon abhalten, etwas zu sagen, das sie nicht zurücknehmen kann. Sie beißt ihm in die Finger, ganz zart, dann nicht ganz so zart. »Wir müssen doch ›Happy Birthday‹ singen«, sagt sie. »Wir müssen Geschenke auspacken. Wir müssen den Kuchen essen, bevor er schmilzt.«
    Alfredo kommt aus der Küche und baut sich vor ihnen auf. Sein Magen knurrt, die Tüten hängen ihm schwer an den Händen. Isabel wird nichts sagen, und er wird ihr nicht ins Gesicht sehen. Er starrt auf den Teppich, hat Angst, denkt sie, die strafende Zickzack-Narbe unter ihrem Augen anzusehen. In der Filmversion ihres Lebens … nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein … sie hat sich versprochen, damit aufzuhören. Sie lebt nicht auf der Leinwand, sondern in diesem Leben, in einer heißen Einzimmerwohnung ohne Saft in Corona, Queens. Sie umfasst Christian Louis’ Handgelenke. Sie will nicht, dass er die Arme nach seinem Vater ausstreckt. Alfredo soll wissen, dass er nicht zwei Menschen verlässt, sondern eine Einheit, die sich gegen ihn verbündet hat. Sie wippt das Baby auf den Knien. Steckt ihre Nase in seine Haare und riecht an dem zarten Köpfchen. Babypuder. Reife Aprikosen. Keine-Tränen-Shampoo. Als Alfredo geht, klicken die Gläser der Votivkerzen aneinander, als würden sie auf jemandes Gesundheit anstoßen, als wünschten sie den Reisenden dieser Welt von Herzen eine gute Reise.
    »Ich bin gleich wieder da«, sagt Alfredo, aber das hat Isabel schon einmal gehört.
    Z uerst hat Alfredo gedacht, dass womöglich nur in seinem Block der Strom aufgefallen war – bei dem Glück, das er sonst immer hatte? –, aber auf seinem Weg durch Corona stößt er auf eine erloschene Ampel nach der anderen. Die Einfamilienhäuser sind dunkel. Die Dreifamilienhäuser sind dunkel. Die Grill-Restaurants, die Heilkräuterläden, die Apotheken, die Augenbrauen-Studios, die Pizzerien, die Läden für Spiritousen und Autoteile, das Seoul-Glass-Warenhaus – alle sind dunkel. Die ganze Nachbarschaft ist ausgeknockt. Wer weiß, vielleicht sogar der ganze Stadtteil? Alfredo hat das Gefühl, nicht von Gebäuden, sondern von Gebäudehüllen umgeben zu sein. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht Queens erschöpft aus.
    An der Ecke von Northern und Junction Boulevard bleibt er stehen. Seine Arme sind müde. Seine Boxershorts kleben ihm an den Schenkeln. Genau
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