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Die Pforte

Die Pforte

Titel: Die Pforte
Autoren: Patrick Lee
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weit wie noch nie in den vorangegangenen Tagen.
    Alaska oder Minnesota?
    Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, war er hierhergekommen. Bisher war ihm das nicht gelungen.
    Die Vor- und Nachteile beider Orte gingen ihm ungeordnet durch den Kopf. Zu Hause hatte er Freunde und Familie. Sosehr sie ihn auch nach wie vor verurteilen mochten, seine Vergangenheit würden sie jederzeit eher akzeptieren als völlig Fremde. Zu Hause gab es seinen Bruder Jeff, der ihm angeboten hatte, in die kleine Softwarefirma, die er gerade bei sich zu Hause aufzog, mit einzusteigen. Er würde ihn auch indie Materie einarbeiten und ihm alles beibringen, kein Problem.
    Zu Hause, das war auch ein Ort voller Gespenster. Das Gewicht verstörender Erinnerungen lastete schwer auf jeder Straße in der alten Nachbarschaft.
    Alaska war das Gegenteil. Diese völlige Leere, die nicht den Anspruch erhob, seinen Charakter zu verstehen, und auch nicht versuchte, ihn in alte Gleise zurückzudrängen. Bei seinem Umzug nach Fairbanks hatte er nichts mitgebracht. Nicht einmal, so schien es mitunter, sich selbst. Vor einem Jahr noch, in den ersten Tagen wieder in Freiheit, hätte er das nie für möglich gehalten, doch hier oben kam es manchmal vor, dass er einen ganzen Tag lang nicht ans Gefängnis dachte und auch nicht an die Tat, wegen der er eingesperrt worden war. Hier oben war er manchmal einfach nicht mehr dieser Typ. Und dieses Gefühl, verdammt nochmal, wurde mit jedem Monat stärker.
    Damit wäre es schlagartig wieder vorbei, sobald er in seine alte Welt zurückkehrte.
    Nicht zuletzt deswegen ahnte er, in welche Richtung er tendierte.
    Er pellte sich aus dem Schlafsack, zog sich Hose und Stiefel über und streckte dann die Füße aus dem Zelt. Das noch am Vorabend weiche Gras knisterte unter seinen Stiefeln. Er stand auf und reckte sich, kniete sich dann hin und fischte den Propangaskocher und einen Metallbecher aus seinem Rucksack. Gleich darauf zischte die blaue Flamme unter dem Wasser für seinen Kaffee. In der Zwischenzeit trat er an den Abhang oberhalb des Tales, dessen Tiefen in der kristallklaren Morgenluft nun klar zu erkennen waren.
    Er stutzte erschrocken.
    Einen Augenblick lang konnte er nur reglos in die Tiefe starren, zu verwirrt, um auch nur zu blinzeln.
    Unten im Tal lag das Wrack einer Boeing 747.

2
    Travis brach in Windeseile sein Zelt ab und packte es mit seinen übrigen Sachen in den Rucksack. Dann hastete er im Laufschritt los, am Abhang des Tals entlang.
    Wie kam das Flugzeug hierher?
    Wie konnte es da unten liegen, ohne dass Hubschrauber darüber kreisten, ohne dass es von Rettungskräften nur so wimmelte, die an Dutzenden Stellen damit beschäftigt waren, vorsichtig mit Schneidbrennern den Rumpf aufzuschneiden?
    Wie konnte es hier so einsam und verlassen liegen?
    Die Talwand unterhalb seines Lagerplatzes war für einen Abstieg zu steil, doch eine halbe Meile weiter nordwestlich erspähte er eine Einbuchtung, wo sie sich in einem Winkel von etwa vierzig Grad abflachte. Immer noch verflucht steil. Er würde höllisch aufpassen müssen, dass er nicht mit seinem Rucksack ins Straucheln geriet, den ganzen Abhang hinunterstürzte und sich dabei sämtliche Knochen brach. Für die Überlebenden, so es denn welche gab, wäre er dann keine sehr große Hilfe mehr.
    Und er war der Einzige, der helfen konnte, vorläufig zumindest. Herbeirufen konnte er niemanden. Das Handy in seinem Rucksack war schon vierzig Meilen hinter Fairbanks nutzlos geworden, und sein C B-Funkgerät –das bevorzugte Kommunikationsmittel auf dem Dalton Highway – befand sich sechsunddreißig Meilen weit entfernt auf dem Parkplatz des Rasthofs in Coldfoot.
    Während er oben am Abhang entlangeilte, vermochte er kaum die Augen von diesem völlig irrealen Anblick unten im Tal loszureißen.
    Die Piloten hatten eine Landung versucht, so viel war klar. Das Wrack deutete mit der Spitze talauswärts, wie auf einer Landebahn, und hatte auf einer Strecke von etwa dreihundert Metern tiefe Furchen in der Erde hinterlassen, bis es schließlich gestoppt war. Auf halbem Weg dieser Schneise lag der Steuerbordflügel, eine Gesteinssäule hatte ihn vom Flugzeugrumpf abrasiert und selbst den Aufprall offenbar unversehrt überstanden. An dem aus der Seite ragenden Stummel des Flügels, wo Treibstoff und funkensprühender Metallabrieb aufeinandergetroffen waren, war ein Flammeninferno nur durch einen Glücksfall verhindert worden: Eine Schneefläche bedeckte den letzten Abschnitt
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