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Die Pforte

Die Pforte

Titel: Die Pforte
Autoren: Patrick Lee
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zu warten.
    Etwa fünf Meilen weiter westlich – Entfernungen waren hier oben schwer abzuschätzen – ragte ein steiniger Bergzug höher empor als das Vorgebirge, das er bislang durchquert hatte. Im Dämmerlicht kam es ihm vor, als würden Schatten über die Bergwand huschen. Er holtesein Fernglas heraus, stützte seine Ellenbogen auf die Knie und suchte den Berg über eine Minute lang ab, bis er sie schließlich entdeckte: eine Gruppe von zwanzig oder mehr Dall-Schafen, die sich mit wahnwitziger Behändigkeit über eine nahezu senkrechte Granitfläche bewegten. Lämmer, kaum älter als zwei Monate, folgten ihren Müttern mit größter Sicherheit. Travis beobachtete die Tiere, bis sie hinter einem Felsvorsprung verschwunden waren.
    Endlich verspürte er eine beruhigende Schwere in seinen Gliedern. Er kroch in das Zelt, hüllte sich in seinen Schlafsack und döste ein, während draußen der Wind durch das kurze Gras raschelte.
     
    Er fuhr heftig aus dem Schlaf hoch. Sein Puls raste, er war sich bewusst, dass er von irgendetwas aufgeschreckt worden war, vermochte aber nicht genau zu sagen, wovon.
    Das durch die Zeltplane dringende Licht war wieder etwas heller. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es kurz nach drei Uhr früh war. Er blinzelte, um richtig wach zu werden, als plötzlich ein lautes Donnern über den Gebirgskamm hereinbrach. Kurz darauf erschütterte das tiefere Nachgrollen den Boden, es schien direkt aus dem Berg unter ihm zu kommen.
    Beruhigt ließ er sich wieder in den Schlafsack sinken und rieb sich die Augen. Ein lautloser Blitz leuchtete auf, sandte sein grelles Licht durch die westliche Zeltwand. Er blickte auf den Sekundenzeiger seiner Uhr und zählte bis fünfunddreißig, ehe der dazugehörige Donner ihn erreichte; das Gewitter war also sieben Meilen von ihm entfernt.
    Nach und nach übermannte ihn wieder der Schlaf, obwohl das Gewitter immer heftiger wurde. Die Geräuschkulisse kam ihm seltsam einlullend vor, wie ein Wiegenlied, das dieser schroffen und unbarmherzigen Landschaft mehr als angemessen war. Schon nach wenigen Minuten waren die Blitze und das Donnern wesentlich näher gekommen, sie folgten jetzt nahezu pausenlos aufeinander.
    Kurz bevor er endgültig in den Schlaf hinüberglitt, hörte er ein merkwürdiges Geräusch inmitten des Gewitters. Unwillkürlich war er wieder wach geworden und lauschte aufmerksam in Richtung Westen. Was war das gewesen? Nach Donner hatte es sich ganz und gar nicht angehört. Eher wie ein Kreischen, aber nicht wie von Menschen oder Tieren. Intuitiv hatte es ihn an das Durchtrennen von Metallblech in der Schlosserei des Gefängnisses erinnert. Das war die Erklärung. Es waren bloß seine eigenen Gespenster, die ihn beim Einschlafen heimsuchten. Sie waren hartnäckig, aber er hatte gelernt, sie zu ignorieren.
    Er schloss die Augen wieder und schlief ein.
     
    Drei Abende später schlug Travis sein Lager sechsunddreißig Meilen von Coldfoot entfernt auf. Der Anzeige auf seinem GP S-Empfänger nach betrug die Strecke, die er tatsächlich zurückgelegt hatte, allerdings neunundvierzig Meilen. Er verzehrte seine aufgewärmte Enchilada-Suppe – sie schmeckte wie all diese Gerichte vor allem nach dem Plastikbeutel, in dem sie abgepackt war – am Rande eines steil abfallenden Tales, das an die zweihundert Meter tief war. Die breite, flache Talsohle zog sich relativ gerade nach Nordwesten hin und mochte an die drei Meilen lang sein.
    Eine Wolkenbank strudelte durch das Tal wie dichte Rauchfetzen, wirbelte um Felsvorsprünge herum und ballte sich in den tiefsten Klüften. Der Talboden direkt unterhalb von Travis war vollkommen verhüllt, doch als die schrägen Strahlen der Sonne den Dunst einige Augenblicke lang durchbrachen, sah er darunter etwas glitzern. Wasser, vielleicht auch Eis.
    Er schlief problemlos ein und wachte nur zweimal auf. Diesmal nicht, weil es donnerte, sondern weil ihn das Heulen von Wölfen weckte. Wie weit sie weg sein mochten, wusste er nicht, doch zeitweise schien es ihm, als wären sie nur eine Viertelmeile von ihm entfernt. Wolfsrudel, hatte er mal gelesen, variierten die Lautstärke ihres Geheuls, um ihre Beute – und andere Wölfe – hinsichtlich ihrer tatsächlichen Entfernung zu täuschen. Das funktionierte auch bei Menschen.
    Um sechs Uhr früh wachte er auf, schlug die Zeltplane zurück und richtete sich in der frischen Morgenluft auf, die erheblich kühler war als am Vorabend. Der Horizont zog sich weit in die Ferne dahin, so
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