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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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sich noch nicht von New York trennen.‹ (…)
    ›Sie hat dort in ihrem Job eine tolle Chance.‹
    ›Und du?‹
    ›Ja – und ich?‹ Papa schrumpft vor lauter Verlegenheit.
    (…) ›Du bist eine Type, Paul‹, sagt er. ›Wenn du willst, kannst du zu Oma Käthe rüberziehen. Sie hat mir das vorgeschlagen.‹ (…)
    ›Er (Paul) könnte Theater machen, könnte um sich schlagen, das Hoffest durcheinanderbringen, Papa bloßstellen. Er und Mama machen, was ihnen gerade passt. Sie haben sich daran gewöhnt, dass Paul, wie sie von ihm sagen, ›pflegeleicht‹ ist. (…) ›Ich will aber nicht ständig allein sein‹, sagt er leise vor sich hin.
    ›Du bist es ja nicht, wir sind überall und immer erreichbar.‹«
    Kinder wie Paul gibt es in Deutschland immer mehr. Sie sind, darin gleichen sie Scheidungskindern, das Produkt einer Gesellschaft, in der sich die Verbindlichkeiten bis zu einem Minimum aufgelöst haben. Sie leben in teuren Stadtvierteln, im Westend, in Bogenhausen, Blankenese, im Grunewald. Von außen betrachtet fehlt es diesen Kindern an nichts. Sie tragen Smartphones mit sich herum, besitzen Stereoanlagen, Hightech-Räder, Ed-Hardy-Shirts.In den Ferien bringen die Eltern sie bei Verwandten und Freunden in Amerika oder sonst wo unter. Gerät das Verhalten der Kinder außer Kontrolle, werden sie nach Louisenlund oder auf andere teure Internate geschickt. Um einen Praktikumsplatz müssen sie sich nicht erst bewerben, denn Papa hat ihnen einen besorgt. Im eigenen Haus sind die Eltern flüchtige Gäste. Dort herrscht Sprachlosigkeit. Von ihren Kindern haben sie sich innerlich verabschiedet.
    Wohlstandsverwahrloste Kinder wissen mit ihrer Zeit häufig wenig oder nichts anzufangen. Gelangweilt lassen sie sich treiben, bringen die Stunden mit Essen rum, spielen Computer. Andere hetzen von einem Termin zum nächsten, ihre Eltern wollen, dass sie Sport treiben und ein Instrument spielen. Die Kinder probieren es mit Fußball, Basketball, Gitarre, Klavier. Am Ende machen sie nichts mit Herzblut. Sie sind leidenschaftslos, einsam, innerlich haltlos. Viele trinken.
    Bei dem Begriff Komasaufen denkt man unwillkürlich an Unterschichtenkinder, deren Eltern in zugemüllten Wohnungen leben und die Hartz IV über die Runden rettet. Das ist ein Irrtum. Die Berliner Drogenbeauftragte Christine Köhler-Azara sagte in einem Interview, dass gerade Jugendliche aus gutem Hause exzessiv trinken. »Es gibt eine Art von Wohlstandsverwahrlosung in den bessergestellten Bezirken. Dort hat die Zahl der mit Alkoholvergiftungen eingelieferten Jugendlichen stark zugenommen, sie ist sogar höher als in den sozial benachteiligten Bezirken.«
    Mädchen trinken weniger, neigen dafür aber zur Magersucht. Das kritische Alter beginnt mit zwölf. Langsam macht sich die Pubertät bemerkbar, das Unwohlsein im eigenen Körper, der sich verändert. Kinder, die alles und nichts haben, nennt Ilka Biermann, Leiterin des Jugendamtes Steglitz-Zehlendorf, »Lückenkinder«. Man weiß wenig über sie, denn das Phänomen der Wohlstandsverwahrlosung ist bislang kaum erforscht. Was sich hinter den Fassaden wohlsituierter Familien ereignet, wird tabuisiert. Einem Hartz-IV-Empfänger ist es wohl egal, was sein Nachbar, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Hartz IV lebt, über ihn denkt. Einem Manager oder Anwalt ist es nicht egal. Für die Betroffenen dieser Schicht steht viel auf dem Spiel, weshalb sie ihr Ansehen schützen und versuchen, den Schein zu wahren.
    In einer Mehrgenerationenfamilie, wo es oft nur noch ein Kind gibt, aber Groß- und Urgroßeltern, fokussiert sich die Erwartungshaltung, die Aufmerksamkeit und Zuwendung auf dieses eine Kind. Es wird emotional und materiell verwöhnt, verhätschelt (overprotection) und beschenkt, zu einem verzärtelten Charakter erzogen. Im ungünstigen Fall entwickelt es sich zu einem Narzissten. Auf Narzissten trifft man in unserer Gesellschaft immer häufiger, ichbezogene Menschen, die, von ihrer eigenen Genialität beseelt, verächtlich auf ihre Mitmenschen herabblicken, auf die sie zugleich angewiesen sind. Ohne den Beifall des Publikums und dessen Dauerbestätigung ist der Narzisst verloren.
    Scheidungskinder sind für Selbstbezogenheit anfällig.»Das Drama eines Menschen mit einer narzisstischen Störung beginnt mit dem Drama der Eltern«, schreibt Heinz-Peter Röhr. Das kann zu viel Zuwendung sein oder zu wenig, ein zu hoher Erwartungsdruck oder Vernachlässigung. Eltern missbrauchen ihre Kinder manchmal
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