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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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beobachtet seinen Gebrauch seit Mitte der neunziger Jahre. Im angelsächsischen Raum aber versteht kaum jemand dessen Bedeutung. Stieffamilien heißen dort blended oder step-families .
    Die Medien feiern seit einigen Jahren das Patchworkmodell als Glücksversprechen, als eine neue Idee von Familie, die nichts Muffiges mehr umgibt, weil sie sich aus allen Zwängen befreit hat. Die Familie verliert an Wert, während die Patchworkfamilie an Popularität gewinnt.
    Besonders gut verstehen sich das Fernsehen und Boulevardmedien wie Bild, BamS, Bunte und Gala auf die Patchworkkampagne. Das wird ihnen nicht schwergemacht, weil genügend prominente Vorbilder ihre Patchworkfamilien stolz vor die Kameras zerren: Heidi Klum und Seal zum Beispiel, Boris und Lilly Becker, Til und Dana Schweiger, Madonna und Guy Ritchie. Bruce Willis und Demi Moore, Tom Cruise und Katie Holmes, die norwegische Prinzessin Mette-Marit und Prinz Haakon.
    Und die Bundespräsidentenfamilie Wulff. Sie ist die prominenteste Patchworkfamilie Deutschlands, bei der jeder beobachten konnte, wie die Verklärung des Patchworkmodells funktioniert.
    Die Liebesgeschichte der Wulffs erzählt sich so: Als Christian Wulff auf einer Dienstreise nach Südafrika Bettina Körner kennenlernte, war er Mitte vierzig, mit ChristianeWulff verheiratet und Ministerpräsident von Niedersachsen. Er galt als langweilig und bieder, wirkte wie jemand, der auf streberhafte Art versucht, stets das Richtige zu tun, weshalb ihn sich viele Mütter in Umfragen als Schwiegersohn wünschten. Bettina war Anfang dreißig, Pressedame eines Reifenherstellers, groß, schlank, blond und am Oberarm tätowiert.
    Heute ist Christian Wulff Bundespräsident, von seiner ersten Frau geschieden und mit Bettina verheiratet. Christian und Bettina Wulff haben Kinder aus ihren alten Beziehungen in die neue mitgebracht, er seine Tochter Annalena, siebzehn Jahre alt, sie ihren sieben Jahre alten Sohn Leander, und vor drei Jahren bekamen sie noch ein gemeinsames Kind, Linus. Nach der Definition, die besagt, dass mindestens ein Partner ein Kind in die neue Beziehung mitbringen muss, sind die Wulffs eine Patchworkfamilie.
    Und sie sind auch eine glückliche Familie: »Es gibt Eis! Für Leander und Linus ist das beim ersten Sommerfest ihrer Eltern im neuen Haus die Hauptsache. Bettina Wulff, die neue First Lady, hat im Gedrängel der 5000 Gäste ihre Söhne zu sich geholt und Linus auf den Arm genommen. Sie lächelt in die Kameras (…). Wir haben die jüngste First Lady bekommen, die es in der Bundesrepublik je gab. Eine Frau (…) aus der Mitte des Lebens, mit Tribal-Tattoo am Oberarm, Patchworkfamilie und sehr konkreten Vorstellungen vom eigenen Leben. (…) Es fällt leichter, sie sich mit Michelle Obama und Carla Sarkozy vorzustellen, als ihren Namen in die Reihe ihrer Vorgängerinnen einzufügen.«Gemeint sind Vorgängerinnen wie Mildred Scheel, Marianne von Weizsäcker oder Christiane Herzog.
    Bettina Wulff ist »Lady Lässig«. Mit ihrer Patchworkfamilie geht »das Sommermärchen (…) in die Verlängerung«. Sie »verjüngt Deutschland.«
    Bettina Wulff hat auch ihren Mann verjüngt. »Seit er mit ihr zusammen ist, wirkt der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident weniger konservativ, sein akkurater Seitenscheitel ist verschwunden, ihr Tattoo findet er cool und modern.« Der Bundespräsident trägt häufiger Jeans, er feiert auf Rockkonzerten von Madonna oder U2. »Der Mann, der Mitte 30 aussah wie der Filialleiter einer örtlichen Sparkasse, hat zehn Jahre später nicht nur eine neue Brille, sondern einen erstaunlichen Glamour-Faktor.«
    Bettina Wulff ist eine Vorzeige-First-Lady. Sie liebt Partys, Reisen und Events. Sie genießt das Scheinwerferlicht und »weiß durchaus zu glänzen, sogar im Dirndl (…)«. Die erste Frau Wulff, eine leidenschaftliche Reiterin, glänzte nicht ganz so sehr. »Bei den Pferden fühlt sich die bodenständige Frau zu Hause.« Christiane Wulff »quälte« sich höchstens zum Presseball, ansonsten ließ sie ihren Ehemann mit seinen Repräsentationspflichten im Stich.
    Sobald es in den Medien um traditionelle Familien und jahrelange Beziehungen geht, wird man das Gefühl nicht los, in eine beklemmende Welt zu blicken, die uns die Luft abschnürt und uns unserer Freiheit beraubt. Man hat sich auseinandergelebt, alles ist eng, nichts ist aufregend. Vor einem solch eintönigen Leben warnte schon Johann Nepomuk Nestroy:»Komm mir bloß nicht mit einem alten Ehepaar, da
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