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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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Sachen hineinstopfen, Jeans, Pullis, Shirts, Wäsche, er besitzt keine teuren Gegenstände, keine Dinge, an denen er hängt, weil er mit ihnen eine Geschichte verbindet. Er ist ein leidenschaftsloser Mensch. Auf der Suche nach der Sphäre, in der er sich ungehindert selbst verwirklichen kann, zieht er, anders als im Roman, Richtung Westen los. Die Vergangenheit schüttelt er ab, als hätte er kein Gedächtnis.
    Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit, schreibt Georges Perec. Man begegne überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten mit Kompassen. Man müsse immer die Zeit wissen, doch man fragt sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: Man ist zu Hause, man ist in seinem Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße.
    Tatsächlich weiß niemand mehr, wo er ist. Holden Caulfield könnte seinen aktuellen geographischen Standort zwar problemlos bestimmen, wäre aber unfähig, neben sich zu treten und sein Leben von außen zu betrachten. Erschrocken wäre er darüber nicht, er ist schließlich kein »Hänschen Klein«. Jeder kennt den Text des berühmtesten deutschen Kinderlieds, in dem es am Ende heißt: Da besinnt / sich das Kind, / kehrt nach Haus’ geschwind.
    Worauf sollte sich Caulfield besinnen? Wohin zurückkehren? Und weshalb?
    Die Bevölkerung der Welt mit Miet-, Job- und Lebensnomaden hat die Utopie gesellschaftlicher Verbindlichkeit endgültig zunichtegemacht. Früher wanderten Stämme und Sippschaften durch die Steppe, um Tieren zu folgen oder neue, fruchtbare Landschaften für ihre Viehherden zu finden. Der moderne Nomade zieht alleine los.
    Auf seiner Reise trifft Holden Caulfield auf Frauen, die er begehrt. Hin- und hergerissen zwischen Verlangen nach Nähe und Panik davor, erliegt er irgendwann der Versuchung und lässt sich auf ein Abenteuer ein. Die Frau, der er körperlich nahe kommt, stammt wie er aus einer zerrütteten Familie. Wie er hat sie Angst, in sich hineinzuhören, bei anderen ist es ihr unmöglich. Das Aufeinandertreffen seelisch Traumatisierter verringert die Last der Vergangenheit nicht. Auch zwischen zwei Alkoholikern, die eine Liebesbeziehung führen, findet keine Heilung statt.
    Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich zwei Menschen aus intakten Familien ineinander verlieben, weil es immer weniger intakte Familien gibt. Letzten Endes infizieren die Bindungsneurotiker die Übriggebliebenen mit dem Virus der Einsamkeit. Wie die Depression, ist die Einsamkeit eine Ansteckungserkrankung.
    Holden und die Frau trennen sich bald. Man hat sich nichts zu geben.
    Und man hat sich auch nichts mehr zu sagen. Zwischenden Generationen herrscht Schweigen, kein eisiges, hasserfülltes, ein gleichgültiges Schweigen. Weil das Interesse füreinander fehlt, fehlt auch das Verantwortungsgefühl. Eltern und Kindern sind einander so fremd, dass ein Terminkalenderverhältnis schon der Glücksfall ist. Holden Caulfield wäre eines dieser entfremdeten Kinder. Und wie diese Kinder sieht er seine moralische Verpflichtung den Eltern gegenüber darin, einen günstigen Heimplatz aufzutreiben. Günstig müsste er tatsächlich sein, denn obwohl die Eltern bis dreiundsiebzig gearbeitet hatten, wurde ihre Rente zusammengestrichen. Ein Heimplatz lässt sich mit geringem Aufwand übers Internet buchen. Die Abstellanlage, in die Holden seine Eltern verfrachtet, hat winzige Zimmer, in denen zu viele alte Menschen zu dicht nebeneinanderliegen. Er wird diesen Raum, in dem seine Eltern ihrem Lebensabend entgegendämmern, nicht betreten. Es interessiert ihn nicht, wer ihre Windeln wechselt, sie wäscht, für sie kocht, wie es ihnen geht. Möglicherweise schickt er in einem sentimentalen Augenblick eine Postkarte oder gratuliert telefonisch zum Geburtstag.
    Über Euthanasie diskutieren Politik und Gesellschaft völlig unaufgeregt, weil nur noch die Frage der besten, also billigsten Methode zu klären ist. Wer sterben möchte, muss nicht länger in ein fremdes Land reisen, wo ihm jemand in einem schäbigen Hinterhaus eine Tablette in die Hand drückt. Die Tablette liegt auf dem Nachttisch. Die Alten belasten das Sozialwesen, sie sind zu viele, und sie sind unbezahlbar geworden.
    Holden Caulfield hätte kein schlechtes Gewissen. Er handelt, wie er erzogen worden ist.
    »Erzählt nie einem was. Denn sonst vermisst ihr alle mit der Zeit«, hat er uns geraten.
    Wir haben seinen Rat befolgt.

Dank
    Dass dieses Buch entstanden ist, verdanke ich dem Vertrauen vieler Menschen,
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