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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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erobern.«
    Ohne Verbindlichkeiten verirren wir uns schnell, und es ergeht uns wie den Driftern und Zockern der Paul-Auster-Welt, die auf staubigen Landstraßen Amerika durchkreuzen oder einfach nur innerlich orientierungslos umherstolpern, ohne jemals zu einem Ziel zu gelangen. Sie sind Gefangene im Nirgendwo. Ihr Leben gliedert sich in aneinandergereihte Kapitel auf. Die Selbstverwirklichung endet in der Selbstbeschränkung des Ichs.
    Wir sitzen in einem gesellschaftlichen Experiment fest, das wir auf den Weg gebracht und über das wir die Kontrolle verloren haben. Wie es ausgeht, ist völlig ungewiss. Was wir allerdings wissen, ist, dass das Experiment eine verhängnisvolle Richtung eingeschlagen hat, das lässt sich belegen. Die Zahl der Scheidungs- und emotional vernachlässigten Kinder wächst kontinuierlich, wir ziehen immer mehr Narzissten und Egoisten heran, die im selben Atemzug verwöhnt werden wie Prinzen und gedrillt, als seien sie Militäranwärter. Das Trauma der Trennung, früher Liebesentzug, Überforderung führen in die innere Emigration. Das Gehirn fährt die Gefühle automatisch runter, als handele es sich um den Lautstärkeregler einer Stereoanlage. Die emotionale Leere mündet in das Abstumpfen von Empfindungen und damit in ein Leben, das sich anfühlt, als sitze man hinter Glas und betrachte es als Zuschauer.Solche Entfremdungserfahrungen hemmen die Entwicklung, und sie fördern die Unreife. Kinder verlieren zunehmend ihre Empathie, sie fühlen keine Fürsorglichkeit mehr, keine Reue. »Sie sagen«, so Neufeld, »dann nicht mehr: ›Ich habe Angst‹, sie machen einige heutzutage geradezu typische Äußerungen wie: ›Macht mir doch nichts‹, ›ist mir doch egal‹ und ›geht mich doch nichts an‹.« Ohne tiefe Bindung können Eltern ein Kind aber nicht erziehen und auf die Welt mit ihren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen vorbereiten. Schon aus Selbsterhaltungstrieb und Pragmatismus müssten die Generationen alles dafür tun, sich zu vernetzen, stattdessen treiben sie auseinander.
    Wir sprechen nicht über ein paar Kindheitstraumata, die nur die Persönlichkeit Einzelner betreffen, wir sprechen über nicht weniger als den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Kinder, die in unverbindlichen Sozialkonstruktionen aufwachsen, die sich selbst überlassen werden, verlieren jedes Gefühl für Bindungen, für Freundschaft, Liebe und Solidarität. Sie sind Vagabundierende, an keinem Ort verankert, ohne feste Beziehungen, nicht einmal der zum eigenen Ich. Das macht sie zu tickenden Zeitbomben. »Was Kindern angetan wird, das werden sie der Gesellschaft antun«, sagte Karl A. Menninger.
    Denn irgendwann werden die Kinder Erwachsene sein und das psychische Profil einer ganzen Generation prägen.

5. Epilog
    Stellen wir uns für einen Augenblick vor, Holden Caulfield, Salingers Fänger im Roggen , dieser einsame, von der Verlogenheit der Erwachsenenwelt angewiderte Held, wäre ein Greis. Die Zeit, als er verloren wie ein Stück Treibholz durchs weihnachtliche New York streunte, miesen Typen begegnete und sich eine Prostituierte aufs Zimmer bestellte, die ihn ungemein deprimierte, weil er ja gar nicht auf der Suche nach Sex gewesen ist, sondern nach Wärme, wäre lange vorbei. Holden Caulfield, inzwischen Ende neunzig, würde auf einer Veranda sitzen und sich eingestehen, dass seine Jugend, verglichen mit der heutigen, doch nicht so grauenhaft, schmerzvoll und traurig gewesen ist, wie er sie damals empfand. Er würde nach einer Weile zu der Erkenntnis gelangen, dass die Mitte des 20. Jahrhunderts zwar kein Paradies gewesen ist, aber auch nicht die Hölle.
    Wie würde sein Leben in einer solchen Welt aussehen?
    Holden Caulfield wäre, wie beinahe jedes Kind, per Kaiserschnitt zur Welt gekommen, was den Ablauf beschleunigt, planbar ist und die Belastung durch eine Schwangerschaft auf das Nötigste reduziert. Für das Gesundheitssystem, das seine Grenzen erreicht hat, ist die Kaiserschnittmethode am kostengünstigsten. Die Broschüren mit dem Werbeslogan: »Save your love channel!«(Rette deinen Liebeskanal) liegen in allen Frauenarztpraxen aus und werden den Patientinnen bei der Anmeldung mit einem auffordernden Lächeln gereicht. Caulfields Mutter hätte zugegriffen.
    Die Caulfields, gutsituierte Bürger, sind geschieden. Holden lebt in einer großen Wohnung bei seiner Mutter, die aus beruflichen Gründen häufig von Stadt zu Stadt fliegen muss und deshalb selten zu Hause ist. Der Austausch
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