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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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innere Heimat sein. Das ist zumindest ihre Idealvorstellung. Sie ist der geschützte Ort, an dem wir von Eltern und Geschwistern umgeben ins Leben hineinwachsen und unsere Individualität entwickeln. Das Zwecksystem, in das wir Menschen ansonsten oft einbauen, reicht in der Familie über die egoistische Funktionalität hinaus. Der andere kritisiert einen nicht existentiell, man ist keinem Geschmacksurteil unterworfen. Niklas Luhmann spricht von der »Inklusion der Vollperson«.
    Natürlich will man oft fortlaufen, weil alles eng ist, auf klaustrophobische Weise bedrückend. So ist das mit fast allen Dingen, die einen in unmittelbarer Nähe umgeben, mal liebt man sie, mal hasst man sie.
    Im besten Fall ist die Familie eine verschworene Gemeinschaft.Sie gibt einem das Gefühl, in einem Kontext aufgehoben zu sein, in dem ein Antwortverhältnis besteht und die Bedürfnisse nicht verkümmern. Man erfährt sich in ihr als Teil eines Koordinatensystems aus Eltern und Großeltern, Geschwistern und Enkeln, Onkeln und Tanten, Neffen und Nichten. Als Erwachsene können wir uns in die Familie flüchten und Trost suchen oder Erinnerungen finden. Erzählt man einem Patchworkkind davon, denkt es vielleicht an französische Filme über Großfamilienfeiern, die es schon immer kitschig fand. Sonst denkt es an nichts.
    Nehmen wir weiterhin den Idealfall und die Familie als System an, dann hat auch der altmodische Loyalitätsbegriff einen hohen Stellenwert. Man hinterfragt den anderen, aber man stellt ihn nicht in Frage. Loyalität ist in diesem Fall eine emotionale Verbundenheit ohne formalrechtlich relevante Gesichtspunkte.
    Max Weber führte in die Diskussion um Loyalität die Zweckrationalität ein. Loyalität kann in der Überlegung bestehen, dass es für das Erreichen von Zielen zweckmäßig ist, loyal zu bleiben, um die Realisierung dieser allgemein als gut und sinnvoll für das Ganze angesehenen Ziele nicht zu gefährden – selbst wenn dadurch persönliche Einschränkungen nötig werden. Loyalität ist eine der machtvollsten Bindekräfte eines Systems. Sie trägt zur Stützung und Bewahrung bei und ist an spezifische Werte wie Treue und Verbindlichkeit gebunden. Diese Werte sind nicht einklagbar, aber für eine Gesellschaft sind sie unentbehrlich.
    Scheidungskinder erleben das Gegenteil von Verbindlichkeit.
    Sie erleben zum Beispiel zwei Menschen beim Abendessen. Die Mutter sagt, sie habe wenig Appetit. Der Vater sagt, du hast wohl schon bei deinem Freund gegessen. Er sagt es nur so vor sich hin, ein Murmeln. Dann steht er auf und geht. Sie erleben Kälte, manchmal völliges Desinteresse zwischen zwei Menschen, Einsamkeit, Verbitterung oder unterdrückte Konflikte, die mit einem Mal ausbrechen und zur Trennung führen. Sie erleben, dass unter den Zumutungen des Ehelebens die Liebe abstirbt.
    Ihren Eltern ist es nicht geglückt, sie gegen Angriffe von außen und innen zu verteidigen. Was sich zwischen sie geschoben, was an ihrer Zweisamkeit gezehrt hat, trug letzten Endes den Sieg davon. Den Konflikt haben sie nicht beigelegt, sie haben getrennte Wege eingeschlagen. Jeder Mensch ist ersetzbar. »Den Kindern gilt als Wesen der Scheidung, dass Vater und Mutter ihre Paarbeziehung beenden. Sie werden Vater und Mutter zukünftig nicht mehr in verbundener Elterlichkeit erleben. (…) beim Streiten mit dem einen werden sie sich des anderen als zuverlässigen Anker gerade nicht mehr gewiss sein können«, schreibt Gerhard Amendt. Elterlichkeit könnten beide nur verkörpern, solange ihre Partnerschaft auch durch gemeinsame Liebe zu ihren Kindern bestimmt war. Es hilft nichts, Kindern die hereinbrechende Veränderung anzupreisen wie Verkäufer ein Schnäppchen. Was ihnen bleibt, sind Mutter und Vater als »Einzelwesen«.
    Diese Folie des Scheiterns verinnerlichen Scheidungskinder.Beim Gedanken an Familie schiebt sie sich automatisch vor ihre Augen. Sie wissen nicht, wie Familie funktioniert, wie sich Zusammengehörigkeit anfühlt, was eine Schicksalsgemeinschaft ist, sie haben es nie gelernt. Um die fatale Verknüpfung, dass Liebe und Familie ins Unglück führen, aufzulösen, müssen sie das Bild einer gelingenden Partnerschaft selbst entwerfen. Manche haben Glück und finden dieses Bild in unmittelbarer Nähe bei ihren Großeltern. Vielleicht war für sie im Gegensatz zu den Eltern beständige Liebe keine unüberwindbare Hürde, vielleicht vervollständigte der eine den anderen am Ende sogar. Ein Großvater, der kaum mehr laufen
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