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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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Ja. Obwohl ich mit einem Mann verheiratet bin, der mich wirklich liebt. Ich habe es inzwischen akzeptiert, dass meine Ängste sich nie legen werden. Es ist, als hätte man sie mir ins Hirn gedruckt.«
    Die logische Konsequenz, die Scheidungskinder aus ihren Erfahrungen ziehen, ist, dass sie seltener heiraten und Kinder bekommen. Ihren Kindern würden sie eine ähnliche Kindheit wie die eigene auf keinen Fall zumuten wollen. Das lässt sich nicht garantieren und nur dann ausschließen, wenn sie kinderlos bleiben. Viele bezweifeln, dass sie überhaupt eine gute Mutter sein und ein Gespür für ihre Kinder entwickeln könnten.
    Laut OECD war die Geburtenrate in Deutschland seit 1983 nicht mehr höher als 1,5 Kinder pro Frau. Im Moment liegt sie bei 1,36 und damit unter dem OECD-Durchschnitt von 1,74. Die demographische Lage ist, wie jeder weiß, dramatisch, das belegen die Zahlen: Die Einwohnerzahl Deutschlands wird bis 2050 um 12 Millionen fallen. Das sind so viele Menschen, wie in den zwölf größten Städten des Landes leben. Die Altersgruppe zwischen dreißigund fünfundvierzig wird um 25 Prozent zurückgehen. Noch 1980, das ist gerade eine Generation her, zählte in Deutschland die Altersgruppe der Fünfzehn- bis Vierundzwanzigjährigen 12,6 Millionen. Bis 2050 sinkt die Zahl der Jugendlichen auf unter 10 Millionen, während sich gleichzeitig die der über Achtzigjährigen verdreifacht. Vor dem Kollaps der Renten- und Sozialsysteme warnen nicht nur Apokalyptiker. Der demographische Wandel lässt sich nicht stoppen, er lässt sich auch nicht umkehren, man kann ihn mit buchhalterischer Genauigkeit prognostizieren. Daran wird auch die Zuwanderung nichts ändern. »Familiäre Strukturen werden vertikal, nicht mehr horizontal sein, mit ganz wenigen Cousins oder Cousinen, aber vier bis fünf Generationen, die gleichzeitig leben. Zwischen ihnen werden ganz neue Beziehungen bestehen, der Handel von Geld, Waren und kulturellen Inhalten innerhalb der Familie wird von ganz neuen Tabus bestimmt sein«, schreibt Frank Schirrmacher in Das Methusalem-Komplott . Die Aufgabe der Zukunft werde in vielen Familien – und bald auch in der Gesellschaft selbst – darin bestehen, die Grenzen von Verwandtschaft, Stiefverwandtschaft und Freundeskreis neu zu definieren.
    Ein dreizehn Jahre altes Mädchen, hübsch, beliebt, die Eltern gehören der Mittelschicht an, die Familie wohnt in einem Haus mit Garten. Das Mädchen bekommt üppig Taschengeld und trägt Markenkleidung. Ihren Schulfreundinnen erzählt sie montagmorgens am liebsten vom Wochenende, das sie entweder mit ihren Eltern auf dem Tennisplatz verbracht hat oder bei einem Ausflug in dieUmgebung. Eines Tages klaut das Mädchen einer Freundin den iPod und wird ertappt. Es stellt sich heraus, dass das Mädchen in seelischer Not ist. Da sie am Wochenende in Wahrheit weder auf dem Tennisplatz noch bei Ausflügen ist, sondern die meiste Zeit für sich allein, hatte sie sich in eine Parallelwelt geflüchtet. Je intensiver sie von dieser Parallelwelt sprach, je bunter sie sie ausmalte, desto realer erschien sie ihr. Beide Eltern arbeiteten, was für sich gesehen noch kein großes Problem darstellt. Viele Eltern tun das. Die Eltern des Mädchens, das ein Einzelkind ist, sind allerdings auch in ihrer Freizeit hauptsächlich mit sich, ihrer Arbeit und ihren Hobbys beschäftigt. Die Mutter spielt Hockey, der Vater macht gerade seinen Flugschein. Um das Mädchen kümmern sie sich kaum. Es läuft im Leben der Eltern am Rande mit, ohne groß aufzufallen oder zu stören. Bei Streitereien mit Freundinnen streicht die Mutter ihrer Tochter flüchtig über den Kopf und sagt: »Das kriegst du wieder hin. Du bist stark.« In den Arm nehmen ihre Eltern sie schon lange nicht mehr, die höchste Form der Zuwendung ist ein Kuss auf die Stirn.
    Emotionaler Missbrauch ist nicht greifbar. Für das Verweigern von Zuwendung und den Versuch, fehlende Liebe mit materieller Großzügigkeit wettzumachen, hat sich der Begriff Wohlstandsverwahrlosung etabliert. Darüber hat Peter Härtling ein Buch geschrieben, es heißt Paul das Hauskind . In einer Szene, man sitzt gerade beim Hoffest zusammen, ruft der Vater seinen Sohn zu sich:
    »›Kannst du mal mitkommen, Paul?‹
    ›Warum?‹
    ›Ich muss was mit dir besprechen, Paul.‹
    ›Ich weiß schon, was.‹ (…)
    ›Ich hab dich mit Oma Käthe tuscheln gesehen.‹
    (…) ›Wahrscheinlich verreist du wieder und sie soll auf mich aufpassen.‹
    ›Deine Mutter kann
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