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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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auch zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse und lieben sie nicht um ihretwillen. Das Kind ist eine Duplikation, an ihm werden nicht erreichte Eigenziele abgearbeitet.
    Die gesellschaftliche Entwicklung trägt ihren Teil zur Verbreitung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen bei. »Der typische Narzisst, selbstbezogen und rücksichtslos, erfüllt vorzüglich die Bedingungen, die in der Wirtschaft gefragt sind, und hat alle Chancen, Karriere zu machen«, sagt Röhr. Er ist nicht kritikfähig und ein schlechter Verlierer. Das Internet bietet ihm die Bühne, auf der er sein selbstverliebtes Spiel spielen kann. Die Zeitschrift Psychologie heute führt in einem Artikel jene menschlichen Verhaltensmerkmale auf, die laut American Psychiatric Association eine narzisstische Persönlichkeitsstörung belegen:
     
         1. Ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit
         2. Eine starke Beschäftigung mit Phantasien von Erfolg, Macht, Schönheit
         3. Der Glaube, besonders zu sein und nur mit »ebenbürtigen Personen verkehren zu können«
         4. Ein Verlangen nach übermäßiger Bewunderung
         5. Eine Anspruchshaltung, etwa auf bevorzugte Behandlung
         6. Eine ausbeuterische, manipulative Beziehungsgestaltung
         7. Mangelndes Einfühlungsvermögen
         8. Häufige Neidgefühle oder die Überzeugung, andere seien neidisch
         9. Ein arrogantes, überhebliches Auftreten
     
    Für die Diagnose »narzisstische Persönlichkeitsstörung« reicht es, mehr als die Hälfte der Merkmale über einen längeren Zeitraum zu erfüllen.
    Die amerikanischen Wissenschaftler Jean M. Twenge und Keith Campbell sprechen bereits heute von einem regelrechten Narzissmusvirus. Es sieht nicht danach aus, als ließe er sich rasch wieder eindämmen. In einer Langzeitstudie von 1976 bis 2006 legten sie Studenten immer wieder Fragebogen vor, in denen sie sich zu folgenden Aussagen äußern sollten: »Ich habe ein natürliches Talent, Menschen zu beeinflussen.« »Ich kann in Menschen lesen wie in einem offenen Buch.« »Ich würde gerne meine Biografie schreiben.« »Würde ich die Welt regieren, wäre sie besser.« »Ich bin eine ganz besondere Person.« Die Antworten gaben bis 2000 keinen Grund zur Sorge, plötzlich aber nahm die Leidenschaft für das eigene Ich sprunghaft zu und 30 Prozent mehr Studenten erkannten sich in den Aussagen. »Der Narzissmus«, schreiben Twenge und Campbell, »hat zugenommen wie die Fettsucht.«
    Die Wahrscheinlichkeit, dass Freundschaft, Liebe oder ein Familienleben mit einem Narzissten funktioniert, ist schon deshalb minimal, weil der Narzisst die Gefühle desanderen aufsaugt und seine im Gegenzug für sich behält. Ein Interesse für das Gegenüber existiert nicht. Alles dreht sich um das eigene Ich. Die pathologische Selbstliebe ist oft kein Ausdruck von Selbstzufriedenheit, sie dient vielen als Panzer, hinter dem sie ihre Unsicherheit und ihr Verlorenheitsgefühl verbergen.
    In einem Vortrag erinnerte der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld daran, dass die wissenschaftliche Definition von Bindung ursprünglich aus der Biologie und Physik stammt. Sie ist der Drang, das Aufrechterhalten von Nähe zu gewährleisten. Physikalische Teilchen lassen sich dadurch charakterisieren, dass selbst die kleinsten einander umkreisen und Atome und Moleküle bilden. Die Himmelskörper stehen in einer Beziehung zueinander, Mond, Erde und Sonne bilden Solarsysteme. Und auch Magnetismus und Schwerkraft sind Bindungskräfte. Aus dieser Perspektive betrachtet ist Bindung das Hauptprinzip unseres Universums. Ohne sie würde seine komplette Struktur zerfallen. Der Mensch, sagte Aristoteles, ist ein Zoon politikon . Er braucht den sozialen Verband und die Sicherheit einer funktionierenden Gemeinschaft. Georges Perec fasste dieses Bedürfnis in seinem Buch Träume von Räumen in Worte: »Ich möchte, dass es dauerhafte, unbewegliche, unantastbare, unberührte und fast unberührbare, unwandelbare, verwurzelte Orte gibt; Orte, die Empfehlungen wären, Ausgangspunkte, Quellen: meine Heimat, die Wiege meiner Familie, das Haus, in dem ich geboren worden wäre, der Baum, den ich hätte wachsen sehen (…), der Speicher meiner Kindheit,gefüllt mit intakten Erinnerungen.« Perec weiß, dass dieser Raum keine Gewissheit ist, sondern ein Zweifel, weshalb er unaufhörlich abgesteckt und bezeichnet werden müsse. »Er gehört niemals mir, er wird mir nie gegeben, ich muss ihn
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