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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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wichtigsten Werte nennt. Es ist noch gar nicht so lange her, da verlor der damalige CSU-Chef Theo Waigel den Machtkampf um die Nachfolgedes bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl gegen Edmund Stoiber. Waigels Ruf war zu beschädigt für den Ministerpräsidentenposten.
    Einige böse Gerüchte über ein uneheliches Kind mit der Skirennläuferin Irene Epple, das sie auf Drängen Waigels abgetrieben haben soll, genügten, ihn moralisch zu diskreditieren. CSU-Abgeordnete versuchten damals Journalisten zu überreden, endlich über Waigels neue Freundin zu berichten. Manche verwahrten sich dagegen, was heute undenkbar wäre. Ein Bischof soll vor Waigel als Ministerpräsident gewarnt haben, da er nicht »gut katholisch« sei. Zu diesem Zeitpunkt lebte Waigel schon seit Jahren von seiner Frau getrennt.
    Die Medien druckten Überschriften wie: »Katastrophe für den Chef«, »Wie Waigels Privatleben zum Politikum wurde« und »Politik privat«. Nirgendwo tauchten die Wörter modern, lässig, unkonventionell oder cool auf. Niemand gratulierte ihm, sprach von einem Neuanfang, von offensichtlicher Verliebtheit, von großer Liebe. Auch das Wort Patchworkfamilie las man nicht, es hatte sich noch nicht durchgesetzt. Theo Waigels Geschichte spielte wohl einfach zur falschen Zeit. Oder zur richtigen. Je nachdem.
    Kein Mensch wünscht sich jene Jahre zurück, in denen Politiker ihrer privaten Irrtümer wegen erpressbar waren, wie einst Willy Brandt, über dessen Affären Dossiers existierten. Niemand glaubt mehr, Politiker seien bessere Menschen, an deren Moral es sich zu orientieren lohnt. Trotzdem kommt es einem sehr merkwürdig vor, dass dasSchloss Bellevue inzwischen mehr mit der Kulisse einer Vorabendserie zu tun hat als mit dem Amtssitz des Bundespräsidenten.
    Zur Verklärung der Patchworkfamilie gehört auch die Neubewertung der Stiefmutterrolle. In einer Welt, in der sie alltäglich wird, darf sie nicht länger die Böse, sie muss die Gute sein, was nicht ganz einfach ist, denn der Stiefmutter eilt bekanntlich ein schlechter Ruf voraus. Das Wort »Stief« geht auf das althochdeutsche »stiof« zurück und heißt so viel wie hinterblieben, verwaist, beraubt. In den Märchen der Brüder Grimm tritt die Stiefmutter ähnlich grausam wie die Hexe auf, in »Brüderchen und Schwesterchen« mutiert sie sogar zu einer. Die Stiefmutter ist listig und intrigant, man unterstellt ihr üble Absichten: Sie wird ihre Stiefkinder quälen, vernachlässigen, verleumden, in Tiere verwandeln und im tiefsten Winter um Beeren schicken. Ihr eigen Fleisch und Blut wird sie stets bevorzugen. Sie ist die Anti-Mutter, ihr Wesen hat etwas Verschlingendes.
    Im Märchen vom »Aschenputtel« zwingt die Stiefmutter die Stieftochter, Schmutzarbeit zu verrichten und in der Asche neben dem Herd zu schlafen. In »Hänsel und Gretel« setzt sie die Kinder im finsteren Wald aus. In »Schneewittchen und die sieben Zwerge« versucht die Stiefmutter dreimal, ihre Stieftochter zu töten, deren Schönheit sie nicht ertragen kann. Die Stiefmutter ist ein Eindringling, ein Fremdkörper, der die Familienharmonie stört. Bei den Kindern ruft sie reflexartig Widerstände hervor. Die verteidigen, was ihnen wertvoll ist.
    Das sind hässliche Gedanken.
    Die Medien haben also allen Grund, am Bedeutungswandel der Stiefmutter zu arbeiten, die jetzt als gute Freundin auftritt. Überhaupt verstehen sich die prominenten Patchworkfamilien prima, alle gehen rücksichtsvoll miteinander um, es gibt keinen Groll und keine Feindschaften.
    Zum Beispiel bei den Schweigers: »An Weihnachten sind ALLE vereint. Meine Freundin Svenja und ich werden am 25. mit Dana und den Kindern feiern.«
    Oder bei den Beckers: »Kurz zuvor hat Amadeus von Papa Boris (42) im Hotelpool seine erste Planschstunde bekommen. Am Nachmittag fuhren Lilly und Boris mit ihrem Baby zum Flughafen, trafen dort Barbara Becker (43) und Boris’ große Junioren Noah (16) und Elias (11). Gemeinsam flogen die sechs nach New York, wo sie am Abend Elias’ elften Geburtstag feierten. Perfektes Patchworkglück!«
    In Hollywood: »Zusammen mit Rafferty (12), Iris (9) und Rudy (7), Judes Kindern aus seiner Ehe mit Sadie Frost (44), verbringt das Liebespaar (Jude Law und Sienna Miller) laut The Sun idyllische Ferien. Gemeinsam bauen sie Sandburgen und planschen in den Wellen. Die Patchwork-Akrobaten logieren in einer noblen Strandvilla.«
    Und natürlich bei den Wulffs: »Bettina Wulff war in Philosophie ›sehr gut‹ und
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