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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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sogar
verstehen, daß du die Psychologin angegriffen hast. Warum hättest du diese Frau
respektieren sollen, wo doch unser Vater Mama nie respektiert hat?‹
    Raphael zeigte keine Reaktion. Er bekam
haufenweise Medikamente. Er war 20 und lebte inmitten von Greisen. Ich war
sicher, daß er sich in diesem Sanatorium nicht wohl fühlte.
    Mama besuchte ihn nur hin und wieder.
Ich konnte ihn nicht im Stich lassen. Ich wusch seine Wäsche, brachte ihm
Bücher, Kuchen, Süßigkeiten. Sylvia und William waren der Ansicht, daß es nicht
meine Aufgabe sei, mich so aufopfernd um meinen Bruder zu kümmern, aber sie
halfen mir und unterstützten mich, wenn ich traurig war.
    Nach und nach besserte sich Raphaels
Gesundheitszustand. Er nahm zu und sprach wieder. Undenkbar, ihn zu unseren
Eltern zurückzuschicken. Wir wußten nicht, was wir mit ihm anfangen sollten.
    Diese Sorgen ließen mir nur wenig Zeit
für mich selbst. Und doch festigte sich meine Beziehung zu William, und sogar
unsere sexuellen Kontakte besserten sich. Jede Geste, jede Liebkosung von
William gab mir mehr Selbstvertrauen.
    Eines Tages sprachen wir vom Heiraten.
Unglaublich! Und ich hatte geglaubt, daß mich nie ein Mann würde haben wollen.
Ich hatte immer noch Alpträume, in denen mein Vater vorkam. Manchmal dachte
ich, daß ich nie eine normale Frau sein würde. Aber mit Williams und Sylvias
Hilfe überstand ich diese depressiven Phasen.
    Ich wollte die große Neuigkeit Madame
Furtel mitteilen, der Krankenschwester vom LEP und Schwester Jeanne. Ich
wollte, daß alle sich freuten: Ihre Bemühungen um mich waren von Erfolg gekrönt
worden. Ich würde ihnen nie genug danken können.
    Zusammen mit Sylvia kaufte ich mein
Brautkleid. Ganz weiß, aus Satin, mit Blumen und Perlen bestickt. Ich glaubte
zu träumen: Sylvia würde meine Schwiegermutter werden. Sie würde die Großmutter
meiner Kinder werden. Welch irrsinniges Glück ich hatte.
    Aber William und ich entschieden, daß
meine Mutter mich zum Altar führen sollte. Ich konnte sie nicht aus meinem
Glück und meinem Leben ausschließen. Ich hatte einfach das Bedürfnis, eine
liebevolle Beziehung zu ihr zu wahren, trotz ihrer Schwächen, trotz allem, was
ich ihr vorzuwerfen hatte. Ich hatte keinen Vater mehr. Auch noch die Mutter zu
verlieren, wäre mir unerträglich gewesen.
    Und doch zog sich mir das Herz
zusammen, als sie sich besorgt äußerte, was die Leute denken würden, wenn mein
Vater der Trauung fernbliebe. Mama würde sich eben nie ändern!
    Meine Hochzeit war ein sehr glücklicher
Augenblick in meinem Leben. Ich schenkte meinen Brautstrauß Schwester Jeanne,
die ebenso ergriffen war wie ich. Nach der Messe fiel es mir schwer zu
sprechen, mich bei allen zu bedanken, ja sogar zu atmen. Es war alles zu viel,
zu schön.
    Aber noch hatten wir nicht gewonnen.
Nach einem Ehejahr war die Bilanz nicht eben berauschend. Unsere Ehe lief nicht
besonders. Ich lehnte Sex häufig ab, und William mußte im Wohnzimmer schlafen,
was ihm schwer zu schaffen machte. Aber auch ich tat mich schwer. Ich war tief
deprimiert und hatte fünf Kilo abgenommen. Ich weinte viel und vernachlässigte
meine Arbeit — ich hatte inzwischen einen Job als Sekretärin gefunden.
    Ich war überzeugt, William zu lieben,
aber im Intimbereich wäre ich mit Streicheleinheiten vollauf zufrieden gewesen.
Wieder fragte ich mich, ob eine homosexuelle Beziehung für mich nicht besser
wäre. Manchmal versuchte ich, mich aufzurütteln, und in diesen Momenten sprach
ich in Gedanken zu meinem Vater:
    ›Es wird dir nicht gelingen, mich
völlig zu vernichten. Ich werde dir beweisen, daß ich es schaffe. Mein Haß auf
dich ist groß genug.‹
    Ich ging zum Psychologen, zum
Sexualtherapeuten. Aber es war vergebens.
    Nur Williams Geduld, sein immenses
Verständnis und seine unerschütterliche Liebe hielten unsere Ehe noch aufrecht.
    An einem Abend, an dem mein Mann
Nachtdienst hatte, versuchte ich, ein für allemal herauszufinden, wer ich
wirklich war. Ich hatte von einem Treffpunkt für Homosexuelle in Biarritz
gehört. Dort wollte ich hingehen. Ich informierte William, der sofort in Panik
geriet.
    ›Ist das wirklich nötig, um unsere
Probleme zu lösen? Das macht mir angst, Sabine!‹
    ›Mir auch, aber ich muß mir Klarheit
über meine wahre Natur verschaffen. Wenn ich fühle, daß ich mich mehr zu Frauen
hingezogen fühle als zu Männern, werde ich hinterher klarer sehen. So kann es
nicht weitergehen.‹
    ›Warum gehst du nicht lieber zu einem
anderen
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