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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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zu
Männer hingezogen fühlte, war ich sehr durcheinander.
    Ich begrüßte William sehr kühl, als er
mich am Bahnhof von Bordeaux abholte. Er reagierte besorgt. Ich erzählte ihm
alles. Hierauf folgte ein Drama. Er weinte, sagte, daß er mich liebe, und
verlangte, daß ich mich zwischen Sylvie und ihm entschied. Zwischen mir und
Sylvie war nichts gewesen, aber ich wußte nicht mehr, ob ich in William
verliebt war oder nur Freundschaft für ihn empfand.
     
    Ich fühlte mich bei den Desplas immer
wohler. Sylvia korrigierte sanft und mit viel Zuneigung mein Benehmen und meine
Aussprache. Ihre Töchter brachten mir bei, mich geschmackvoll zu kleiden. Mir
wurde bewußt, daß ich früher in einer völlig anderen Welt gelebt hatte. Und
doch wandte ich mich nicht von meiner Familie ab. Ich wußte, daß Mama uns
erzogen hatte, so gut sie es konnte. Nur mein Vater widerte mich an.
    Schritt für Schritt näherte ich mich
wieder William an. Alle um uns herum kannten jetzt unsere Gefühle füreinander.
Eine seiner Schwestern bot uns die Schlüssel zum Haus ihrer Tante an, die für
einige Monate ins Ausland gereist war. Das machte mir angst. Ich wußte, daß es
dort zu ersten sexuellen Kontakten kommen würde. William fürchtete sich
ebenfalls. Aber wir sehnten uns beide danach, uns richtig zu lieben.
    Trotz Williams Zärtlichkeit und
Rücksichtnahme funktionierte es nicht. Ich verkrampfte mich, krümmte mich,
rückte von ihm ab, als wollte ich vor ihm flüchten. Er tröstete mich, indem er
mich sanft in die Arme nahm.
    ›Das macht doch nichts, Sabine. Du
brauchst eben Zeit. Ich werde geduldig sein, keine Sorge. Ich liebe dich zu
sehr, um dich aufzugeben. Wir werden es gemeinsam schaffen.‹
    Wir kehrten oft in die Villa zurück.
Jedesmal endete es in einem Fiasko. Meine Erinnerung an meinen Vater ließ mich
einfach nicht los. Ich brach zusammen.
    ›Vergiß es, William. Andere Mädchen werden
dich glücklich machen. Ich werde es niemals können.‹
    Aber er gab nicht auf.
    ›Du mußt lernen zu lieben, vor allem
dich selbst. Dann wird der Liebesakt ganz von allein kommen.‹
    Als ich ihn das sagen hörte, als ich
sah, wie er für mich kämpfte, begann ich, ihn wirklich zu lieben.
     
    Manchmal telefonierte ich mit meiner
Mutter. Sie gestand mir, daß sie meinen Vater im Gefängnis besuchte.
    ›Er hat sich geändert. Du mußt
vergessen, die Vergangenheit ruhen lassen‹, riet sie mir.
    Man konnte meinen, sie spräche von
einem kleinen Streit. Ich fragte mich, warum sie sich noch nicht hatte scheiden
lassen. Ihre Haltung machte mich wütend.
    Sie erzählte mir, daß meine Schwester
Sophie ein kleines Mädchen zur Welt gebracht habe: Nina.
    ›Du weißt ja, wie sehr sie Kinder liebt.
Sie wollte eins, von einem Jungen auf der Durchreise, und jetzt ist die Kleine
da.‹
    Das entsprach so gar nicht Sophies
Charakter. Ich fürchtete mich vor der Wahrheit. Wieder Papa... Wie grauenhaft!
    Julien hatte einen Job. Nachdem er zu
Hause ausgezogen war, hatte er bei der Maisernte geholfen, um Geld zu
verdienen. Schon bald hatte man ihm eine feste Anstellung angeboten, einen
verantwortlichen Posten.
    Raphael war bei den Gärtnerprüfungen
durchgefallen und besuchte jetzt eine Malschule. Jedes Wochenende kam er nach
Hause. Um Mama, Sophie und Nina zu beschützen, wie ich später erfuhr. Und dabei
hatte er selbst so schreckliche Angst vor unserem Vater.
    Ich werde nie wissen, was er durchlitt
und was ihm ganz plötzlich den Verstand raubte. Ich erfuhr, daß man ihn in
einem Sanatorium in Bayonne untergebracht hatte, weil er in seiner Unterkunft
die Einrichtung zertrümmert und eine Psychologin angegriffen hatte.
    Im zweiten Anlauf schaffte ich die
Aufnahmeprüfung an der Informatikschule. Schnell an die Arbeit! Man bot mir ein
sechsmonatiges Praktikum an einem Gymnasium in Bayonne an. Ich arbeitete bei
der Essenausgabe und hielt die Klassen sauber. Deprimierend! Aber ich verdiente
mir meinen Lebensunterhalt und konnte jeden Tag Raphael besuchen gehen.
    Mein kleiner Bruder war bis aufs
Skelett abgemagert und konnte nur mühsam und schlurfend gehen. Er sagte kein
Wort und sah mich an, als wäre ich eine Fremde.
    Ich redete mit ihm, wenn ich draußen
mit ihm spazieren ging.
    ›Was du getan hast, war nicht in
Ordnung, aber es ist nur normal, daß du explodiert bist. Bis dahin hast du
immer alles in dich hineingefressen. Du hast eine zu schwere Bürde getragen,
und das über zu viele Jahre. Unser Vater ist an allem schuld. Ich kann
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