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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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entsetzliche Angst. Mein Vater wurde
hereingeführt, in Handschellen. Er ließ den Blick durch den Saal schweifen. Er
versuchte, uns auszumachen. Plötzlich entdeckte er mich und starrte mir
unverwandt in die Augen. In diesem Moment forderte ein Richter Mama und mich
auf, nach vom in die erste Reihe zu kommen. Ich machte einige endlose Schritte
unter dem durchdringenden Bück meines Vaters. Er brauchte kein Wort zu sagen;
er machte mir auch so genug angst, sogar in Handschellen und in Begleitung
eines Poüzeibeamten.
    ›Monsieur Paul Jamet, gestehen Sie,
ihre hier anwesende Tochter Sabine vergewaltigt zu haben?‹
    Der Richter zeigte mit dem Finger auf
mich. Mein Vater antwortete völlig ruhig und selbstverständlich: ›Ja.‹ Wieder
sah er mich an. Ich konnte nicht aufhören zu weinen.
    Dann wandte sich der Mann in der
schwarzen Robe an mich.
    ›Mademoiselle Sabine Jarnet, bleiben
Sie dabei, daß Ihr hier anwesender Vater sie sexuell mißbraucht hat?‹
    Es fiel mir schwer zu antworten. Wenn
ich ja sagte, wäre das die Katastrophe. Mein Vater würde mich umbringen.
    Der Richter wiederholte seine Frage. ›Ja‹,
brachte ich mühsam hervor.
    Der Richter begann zu sprechen. Ich
verstand nicht viel von seinem Vortrag, registrierte aber ›sechs Monate Haft‹.
Dann war es vorbei. Die Sitzung war geschlossen. Mama hatte nicht aussagen
müssen und ich auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich hätte reden können, aber Mama
hätte erklären müssen, was wir alles durchmachen mußten wegen dieses Irren,
dieses Alkoholikers, der mein Vater war. Er durfte nicht so milde davonkommen.
Ich verließ das Gericht mit Madame Furtel und Sylvia, die meine Aufgewühltheit verstanden
und teilten. Aber es war alles gesagt.
     
    Bei den Desplas war gerade ein junges
Mädchen eingetroffen, Lea. Vorher hatte sie in einer anderen Pflegefamilie
gelebt, in der sie jedoch mißhandelt worden war. Wir verstanden uns gut,
sprachen jedoch nicht über die Gründe für unsere Unterbringung bei den Desplas.
Mit William, Sylvias ältestem Sohn, bildeten wir bald ein Trio guter Freunde.
William war ruhig, sanft, nicht sehr gesprächig, freundlich. Wir lachten,
tobten auf unseren Betten herum.
    Eines Abends im Mai 1985, nach einem
unserer »Scheingefechte«, ging Lea nach unten und ließ William und mich allein.
Wir waren ganz außer Atem, sahen uns an. William rückte näher und legte seine
Lippen auf meine. Verblüfft erwiderte ich seinen Kuß. Er nahm mich in die Arme
und murmelte:
    »Von diesem Augenblick habe ich schon
lange geträumt. Aber ich habe mich nicht getraut. Das dürfen wir nicht wieder
tun. Mama könnte Ärger bekommen. Sie ist für dich verantwortlich.«
    Wir warteten auf meinen 18. Geburtstag
und wahrten unser Geheimnis, während wir gleichzeitig dafür sorgten, daß wir ab
und an allein sein konnten. William half mir, wo er konnte. Wir redeten, und er
hörte mir zu, tröstete mich. Ich lernte, ihm zu vertrauen. Zum erstenmal machte
ein Mann mir keine angst. Um mit Philippe, Sylvias Mann, reden zu können, hatte
ich ein Jahr gebraucht. Die Bindung zwischen William und mir war wohl daraus
entstanden, daß er selbst erst 19 war. Ich betrachtete ihn nicht als
Erwachsenen. Als er Anfang Juni für drei Wochen zum Bund mußte, fiel die
Trennung mir sehr schwer. Ich würde abends nicht mehr mit ihm reden können. Er
würde nicht mehr bei mir sein.
    Dann fragte Madame Furtel, ob ich Lust
hätte, an einer Reise nach Kreta teilzunehmen, die von der DDASS organisiert
würde. Die erste Auslandsreise meines Lebens. Wir waren 15 junge Leute und
wurden von zwei Erzieherinnen und einem Erzieher begleitet. Sonne, Spiele,
Musik. Die Jungen waren zahlreicher als wir Mädchen, aber ich fühlte mich zu
einer Geschlechtsgenossin hingezogen, Sylvie. Sie war hübsch und selbstsicher.
Ich war melancholisch, sehnte mich nach mütterlicher Zuneigung. Wir freundeten
uns bald an, und mir wurde bald bewußt, daß ich ein wenig zu oft an sie dachte.
Unsere Betten standen nebeneinander. Eines Abends wollte ich vor dem
Einschlafen ihre Hand halten. Sie akzeptierte, ohne sich über mich lustig zu
machen. Ich träumte jede Nacht von ihr. Als aber einer der Jungen, die sie
umschwärmen, ihr Freund wurde, schlief sie nicht länger im Nebenbett. Ich war
sehr eifersüchtig. Dabei wurde auch mir der Hof gemacht. Aber ich wollte
niemand anderen küssen als Sylvie.
    Obwohl ich mir sagte, daß es nur
natürlich sei, daß ich mich nach den Erlebnissen mit meinem Vater weniger
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